Seite 181 - Das Leben Jesu (1973)

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Am Jakobsbrunnen
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Die Einladung des Evangeliums soll nicht beschränkt oder nur
wenigen Auserwählten mitgeteilt werden, die uns durch seine An-
nahme zu ehren vermeinen. Die Botschaft soll allen Menschen zuteil
werden. Wo immer Herzen für die Wahrheit offen stehen, ist Chri-
stus bereit, sie zu belehren. Er offenbart ihnen den Vater und die Art
der Anbetung, die dem Herrn, der in aller Menschen Herzen liest,
angenehm ist. Zu ihnen spricht er nicht in Gleichnissen; zu ihnen
spricht er wie damals zur Samariterin am Brunnen bei Sichar: „Ich
bin‘s, der mit dir redet.“
Als Jesus sich am Jakobsbrunnen niederließ, um zu ruhen, kam
er aus Judäa, wo sein Wirken nur wenig Frucht gebracht hatte. Er war
von den Priestern und Rabbinern verworfen worden, und selbst jene,
die seine Jünger sein wollten, hatten seinen göttlichen Charakter
nicht erkannt. Obgleich der Heiland müde und matt war, benutzte er
doch die Gelegenheit, mit der Samariterin zu reden, einer Fremden
und Abtrünnigen von Israel, die dazu in offenkundiger Sünde lebte.
Der Heiland wartete nicht, bis sich eine ganze Schar von Zu-
hörern versammelt hatte. Oft begann er auch vor nur wenigen zu
lehren; doch die Vorübergehenden blieben einer nach dem andern
stehen und hörten zu, bis eine große Menge verwundert und ehr-
fürchtig zugleich den Worten des göttlichen Lehrers lauschte. Der
Diener Gottes darf nicht glauben, zu wenigen Menschen nicht mit
demselben Eifer reden zu können wie zu einer großen Versammlung.
Es mag nur eine Seele die Botschaft hören; doch wer kann sagen,
wie weitreichend ihr Einfluß sein wird? Selbst die Jünger hielten es
nicht für lohnend, daß sich der Heiland mit der Samariterin beschäf-
tigte. Jesus aber sprach mit dieser Frau ernster und eifriger als mit
Königen, Räten oder Hohenpriestern. Die Lehren, die er ihr mitteilte,
sind bis an die entferntesten Enden der Erde gedrungen.
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Sobald die Samariterin den Heiland gefunden hatte, brachte sie
andere Seelen zu ihm. Sie war in ihrer Missionsarbeit wirksamer
als die Jünger des Herrn. Diese erblickten in Samaria kein verspre-
chendes Arbeitsfeld, sondern ihre Gedanken waren auf eine große
Aufgabe gerichtet, die in der Zukunft geschehen sollte. Darum sahen
sie auch nicht die Ernte, die um sie herum zu bergen war. Durch das
samaritische Weib, das sie verachteten, waren die Einwohner einer
ganzen Stadt zum Heiland gekommen, um von ihm zu hören; sie
brachte das empfangene Licht unverzüglich ihren Landsleuten.