Seite 260 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
ihn mit ehrfurchtsvollen Blicken an, und die Menschen flüsterten
einander zu: „Wir haben heute seltsame Dinge gesehen.“
Lukas
5,26
.
Die Pharisäer waren vor Erstaunen verstummt und durch ihre
Niederlage überwältigt. Sie sahen, daß sich hier keine Gelegenheit
bot, das Volk durch ihre Eifersucht aufzuwiegeln. Die wunderbare
Heilung, die an diesem Mann vollbracht worden war, den sie einst
dem Zorn Gottes übergeben hatten, machte einen so gewaltigen
Eindruck auf das Volk, daß die Pharisäer zeitweilig vergessen wa-
ren. Sie sahen, daß Christus eine Macht besaß, die sie Gott allein
zugeschrieben hatten, und doch stand die bescheidene Würde seines
Wesens in auffallendem Gegensatz zu ihrem Hochmut. Sie waren
verwirrt und beschämt; sie erkannten wohl die Gegenwart eines hö-
heren Wesens, aber sie bekannten sich nicht zu ihr. Je stärker und
zwingender der Beweis war, daß Jesus die Macht besaß, auf Erden
Sünden zu vergeben, desto mehr vergruben sie sich in ihrem Unglau-
ben. Sie verließen das Haus des Petrus, in dem sie der Heilung des
Gichtbrüchigen durch Jesu Wort beigewohnt hatten, und grübelten
über neuen Plänen, um den Sohn Gottes zum Schweigen zu bringen.
Körperliche Krankheit, wie bösartig und tief verwurzelt sie auch
gewesen sein mag, wurde durch die Macht Christi geheilt; aber
die Krankheit der Seele nahm völligen Besitz von jenen, die ihre
Augen dem Licht verschlossen. Aussatz und Gicht waren nicht so
schrecklich wie Frömmelei und Unglauben.
Im Hause des Geheilten herrschte große Freude, als er zu seiner
Familie zurückkehrte und mit Leichtigkeit das Bett trug, auf dem er
erst kurz zuvor langsam weggetragen worden war. Alle umringten
ihn und weinten vor Freude. Sie wagten kaum, ihren Augen zu trau-
en, als er nun in voller Manneskraft wieder vor ihnen stand. Jene
Arme, die sie kraftlos gesehen hatten, gehorchten wieder seinem
Willen; die zusammengeschrumpften, fahl aussehenden Muskeln
waren wieder frisch und rosig. Sein Schritt war fest und frei; Freude
und Hoffnung leuchteten aus seinem Blick, und ein Ausdruck der
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Reinheit und des Friedens hatte die Spuren von Sünde und Leiden
verdrängt. Frohe Danksagungen stiegen aus dem Kreis dieser Fa-
milie empor. Gott wurde verherrlicht durch seinen Sohn, der dem
Mutlosen Hoffnung dem Zerschlagenen neue Kräfte gegeben hatte.
Dieser Mann und seine Familie waren bereit, ihr Leben für Jesus