Seite 368 - Das Leben Jesu (1973)

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Kapitel 40: Eine Nacht auf dem See
In der Dämmerung eines Frühlingsabends aß die Menge auf der
weiten, grünen Ebene die Speise, die ihnen der Heiland verschafft
hatte. Die Worte Jesu, die sie an jenem Tage gehört hatten, waren
ihnen wie Offenbarungen Gottes vorgekommen; die Werke der Hei-
lung, die sie sehen durften, konnten nur durch göttliche Kraft bewirkt
worden sein. Das Wunder der Brote aber berührte jeden persönlich;
jeder einzelne hatte Anteil an dieser Segnung. Zu Moses Zeit hatte
der Herr die Kinder Israel in der Wüste durch Manna gespeist, und
wer war dieser, der sie heute gespeist hatte, anderes als der, von dem
Mose geweissagt hatte? Kein Mensch konnte aus fünf Gerstenbroten
und zwei kleinen Fischen genügend Speise schaffen, um damit Tau-
sende hungriger Seelen zu sättigen. Und sie sagten zueinander: „Das
ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.“
Johannes
6,14
.
Den ganzen Tag waren sie immer mehr davon überzeugt worden.
Jene krönende Handlung nun gibt ihnen die Gewißheit, daß der lang
erwartete Erlöser unter ihnen weilt. Die Hoffnung aller Anwesenden
wird immer größer: Er ist es, der Judäa zu einem irdischen Paradies
machen wird, zu einem Land, in dem Milch und Honig fließen, er
kann jeden Wunsch erfüllen; er kann die Macht der verhaßten Römer
brechen; er kann Juda und Jerusalem befreien und die in der Schlacht
verwundeten Soldaten heilen; er kann Heere mit Nahrung versorgen,
Völker besiegen und auch Israel die lang ersehnte Herrschaft geben.
In ihrer Begeisterung sind sie bereit, Jesus sofort zum König
zu krönen. Sie sehen, daß er sich keinerlei Mühe gibt, die Auf-
merksamkeit auf sich zu lenken oder sich ehren zu lassen. Hierin
unterscheidet er sich wesentlich von den Priestern und Obersten, und
sie befürchten, daß er nie einen Anspruch auf Davids Thron geltend
machen wird. Sie beraten gemeinsam und kommen überein, Gewalt
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anzuwenden und ihn als König von Israel auszurufen. Die Jünger
schließen sich der Menge an und erklären, daß der Thron Davids das
rechtmäßige Erbe ihres Herrn sei. Nur Jesu Bescheidenheit, sagen
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