Seite 392 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Die Abgesandten von Jerusalem waren wuterfüllt. Sie konn-
ten den Herrn nicht als einen Übertreter des mosaischen Gesetzes
anklagen; denn er sprach ja als dessen Verteidiger gegen ihre Über-
lieferungen. Die erhabenen Vorschriften des Gesetzes, die er gelehrt
hatte, zeigten einen auffallenden Gegensatz zu den kleinlichen Re-
geln, die sich Menschen ausgedacht hatten.
Jesus erklärte der Menge und danach besonders seinen Jüngern,
daß die Verunreinigung nicht von außen, sondern von innen heraus
geschehe. Reinheit und Unreinheit betreffen die Seele: die böse Tat,
das böse Wort, der schlechte Gedanke, jede Übertretung des Geset-
zes verunreinigten den Menschen, aber nicht die Vernachlässigung
äußerlicher, von Menschen beschlossener Verordnungen.
Die Jünger bemerkten den Zorn der Kundschafter, als ihre Falsch-
heit aufgedeckt wurde. Sie sahen die feindlichen Blicke und hörten,
wie sie unzufriedene und rachsüchtige Worte murmelten. Sie dach-
ten nicht daran, wie oft ihr Herr schon bewiesen hatte, daß er in den
Herzen der Menschen wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen
konnte, und berichteten ihm von der Wirkung seiner Worte. Sie hoff-
ten, daß er die aufgebrachten Beamten Jerusalems beschwichtigen
würde, und sagten: „Weißt du auch, daß die Pharisäer an dem Worte
Ärgernis nahmen, als sie es hörten?“
Matthäus 15,12
.
Jesus antwortete: „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater
nicht gepflanzt hat, die werden ausgerissen.“
Matthäus 15,13
. Die
von den Rabbinern so hoch geachteten Gebräuche und Überliefe-
rungen entstammten dieser Welt und nicht dem Himmel. Wie hoch
auch ihr Ansehen beim Volk war, im Urteil Gottes konnten sie nicht
bestehen. Alles menschliche Gedankengut, das die Stelle der Gebote
Gottes eingenommen hat, wird an jenem Tage als wertlos angesehen,
da „Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen
ist, es sei gut oder böse.“
Prediger 12,14
.
Noch immer werden menschliche Weisungen an die Stelle der
Gebote Gottes gesetzt; selbst unter den Christen gibt es Einrichtun-
gen und Gebräuche, die keine bessere Grundlage haben als die Über-
lieferungen der Väter. Solche Einrichtungen, die auf rein menschli-
cher Grundlage beruhen, haben die göttlichen Bestimmungen ver-
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drängt; die Menschen halten an ihren Überlieferungen fest, verehren
ihre menschliche Gewohnheiten und hassen alle, die ihnen ihren
Irrtum zu beweisen suchen. In dieser Zeit, da wir angehalten sind,