Seite 569 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

Dein König kommt!
565
wie die Bäume des Waldes; er sah die unglücklichen Einwohner
auf der Folter und bei der Kreuzigung unerträgliche Qualen leiden;
er sah die stolzen Paläste vernichtet, den Tempel in Trümmern und
von seinen mächtigen Mauern keinen Stein auf dem andern liegen,
während die Stadt einem umgepflügten Acker glich. Angesichts
dieser Schrecknisse vermochte der Heiland seine Tränen nicht mehr
zurückzuhalten!
Jerusalem war sein Sorgenkind gewesen. Wie ein liebevoller
Vater über einen eigensinnigen Sohn trauert, so klagte Jesus über
die geliebte Stadt. Wie kann ich dich aufgeben? Wie kann ich dich
der Vernichtung ausgeliefert sehen? Muß ich dich aufgeben, damit
du den Becher deiner Bosheit füllst?
Dem Herrn war eine einzige Seele so kostbar, daß im Vergleich
mit ihr das ganze Weltall zur Bedeutungslosigkeit herabsank; und
hier sah er ein ganzes Volk verlorengehen. Wenn sich die Strahlen
der untergehenden Sonne am Horizont verlieren würden, wäre auch
die Gnadenzeit Jerusalems zu Ende. Während der Zug auf der Höhe
des Ölberges anhielt, war es für Jerusalem noch Zeit, Buße zu tun,
obgleich der Engel der Barmherzigkeit seine ausgebreiteten Flügel
bereits sinken ließ, um von dem goldenen Thron herabzusteigen und
der Gerechtigkeit und dem göttlichen Gericht Raum zu geben. Doch
noch bat Jesu liebevolles Herz für Jerusalem, das seine Gnaden-
gaben verachtet, seine Warnungen geringgeschätzt hatte und deren
Bewohner nun drauf und dran waren, ihre Hände mit seinem Blut
zu beflecken. Wenn Jerusalem nur bereuen würde, es war noch nicht
zu spät! Während die letzten Strahlen der untergehenden Sonne
auf dem Tempel, dem Berg und den Zinnen lagen — ob nicht ein
guter Engel in der Stadt die Liebe zum Heiland erwecken und so
ihr Geschick abwenden würde? Schöne, aber unheilige Stadt, die
die Propheten gesteinigt und den Sohn Gottes verworfen hatte, die
sich durch ihre Unbußfertigkeit selbst die Fesseln der Knechtschaft
[571]
schmiedete — ihre Gnadenfrist war bald vorüber.
Noch einmal wendet sich der Geist Gottes an Jerusalem. Bevor
der Tag ganz dahingegangen ist, wird ein weiteres Zeugnis für Chri-
stus gegeben. Beachtet die Stadt diese göttliche Bestätigung, nimmt
sie den Heiland auf, der sich anschickt durch ihre Tore die Stadt zu
betreten, dann wird sie noch gerettet werden.