Seite 691 - Das Leben Jesu (1973)

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Gethsemane
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unfähig, ihm zu widerstehen. Jesus aber wies nicht einmal den Kuß
des Verräters zurück.
Der Pöbel wurde kühn, als er sah, daß Judas den berührte, der
soeben vor ihren Augen verklärt worden war. Sie ergriffen den
Heiland und begannen die teuren Hände, die nur Gutes getan hatten,
zu fesseln.
Die Jünger hatten nicht gedacht, daß sich ihr Meister gefangen-
nehmen ließe. Die gleiche Macht, die die Verfolger wie tot zu Boden
gestreckt hatte, konnte diese doch so lange zur Hilflosigkeit verurtei-
len, bis sie und ihr Meister gerettet wären. Sie waren enttäuscht und
aufgebracht, als sie die Stricke sahen, mit denen die Hände dessen
gebunden werden sollten, den sie liebten. Petrus zog in seinem Zorn
rasch sein Schwert und wollte seinen Meister verteidigen; er traf
den Diener des Hohenpriesters und hieb ihm ein Ohr ab. Als Jesus
sah, was geschehen war, befreite er seine Hände aus der Gewalt der
römischen Soldaten, sagte: „Haltet ein! Und er rührte sein Ohr an
und heilte ihn.“
Lukas 22,51
.
Dann sagte er zu dem heftigen Petrus: „Stecke dein Schwert an
seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert
umkommen. Oder meinst du, daß ich nicht könnte meinen Vater
bitten, daß er mir zuschickte alsbald mehr als zwölf Legionen En-
gel?“ (
Matthäus 26,52.53
) — für jeden Jünger eine Legion. Warum,
dachten die Jünger, rettet er nicht sich und uns!? Da antwortete ihnen
der Herr auf ihre unausgesprochene Frage: „Wie würde dann aber
die Schrift erfüllt, daß es muß also geschehen?“ — „Soll ich den
Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“
Matthäus
26,54
;
Johannes 18,11
.
Ihre amtliche Würde hatte die jüdischen Obersten nicht davon
abhalten können, sich der Verfolgung Jesu anzuschließen. Seine
Gefangennahme war eine zu wichtige Angelegenheit, um sie aus-
schließlich ihren Untergebenen zu überlassen; sie hatten sich der
Tempelwache und dem lärmenden Pöbel angeschlossen und waren
Judas nach Gethsemane gefolgt. Welch eine Gesellschaft für jene
Würdenträger! Eine wilde, ungeordnete Horde, die nach Sensationen
hungerte und mit allerlei Werkzeugen bewaffnet war, als wollte sie
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einem wilden Tier nachstellen.
Christus wandte sich den Priestern und Ältesten zu und blickte
sie durchdringend an. Die Worte, die er zu ihnen sprach, würden