Seite 693 - Das Leben Jesu (1973)

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Kapitel 75: Jesus vor Hannas und Kaiphas
Auf der Grundlage von
Matthäus 26,57-75
;
Matthäus 27,1
;
Markus
14,53-72
;
15,1
;
Lukas 22,54-71
;
Johannes 18,13-27
.
Über den Bach Kidron, an Gärten und Olivenhainen vorbei,
durch die Straßen der schlafenden Stadt trieben sie den Heiland.
Mitternacht war vorüber, und das Geschrei des höhnenden Pöbels,
der ihm folgte, brach sich schrill an der nächtlichen Stille. Der Hei-
land war gefesselt und scharf bewacht; er konnte sich nur unter
Schmerzen fortbewegen. Dennoch trieben ihn seine Wächter eiligst
nach dem Palast des Hohenpriesters Hannas.
Hannas war das Oberhaupt der amtierenden Priesterfamilie. Mit
Rücksicht auf sein Alter wurde er vom Volk als Hoherpriester aner-
kannt; sein Rat war gesucht und als Stimme Gottes geachtet. Darum
mußte Jesus als Gefangener der Priester zuerst zu Hannas gebracht
werden; dieser mußte bei dem Verhör dabeisein aus der Befürchtung
heraus, der noch wenig erfahrene Kaiphas könnte ihre ausgeklü-
gelte Anklagebegründung zum Scheitern bringen. Seine arglistige,
schlaue und spitzfindige Art wurde bei diesem Fall gebraucht, um
die Verurteilung Jesu unter allen Umständen zu sichern.
Nach der Voruntersuchung durch Hannas sollte Jesus vor dem
Hohen Rat verhört werden. Unter der römischen Besatzung durfte
der Hohe Rat keine Todesurteile vollstrecken lassen; er durfte nur
den Gefangenen verhören und gegebenenfalls verurteilen; das Ur-
teil mußte aber von der römischen Obrigkeit bestätigt werden. Die
Priester mußten darum die Anklage auf solche Vergehen stützen,
die bei den Römern als Verbrechen galten und die gleichzeitig Je-
sus in den Augen des jüdischen Volkes verdammten. Nicht wenige
Priester und Oberste waren durch Jesus überzeugt worden; nur die
Furcht, in den Bann getan zu werden, hinderte sie daran, sich zu
ihm zu bekennen. Die Priester erinnerten sich noch gut der Frage
des Nikodemus: „Richtet unser Gesetz auch einen Menschen, ehe
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man ihn verhört hat und erkennt, was er tut?“
Johannes 7,51
. We-
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