Seite 717 - Das Leben Jesu (1973)

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Judas
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„Ich habe übel getan“, schrie Judas, „daß ich unschuldig Blut
verraten habe.“ Aber der Hohepriester, der sich schnell gefaßt hatte,
erwiderte verächtlich: „Was geht uns das an? Da siehe du zu!“
Mat-
thäus 27,4.5
. Die Priester waren bereit gewesen, Judas als Werkzeug
zu benutzen; gleichzeitig verachteten sie aber seine niedrige Gesin-
nung. Als er sich mit seinem Geständnis an sie wandte, wiesen sie
ihn ab.
Judas warf sich nun Jesus zu Füßen, anerkannte ihn als den
Sohn Gottes und bat ihn inständig, sich zu befreien. Der Heiland
machte seinem Verräter keine Vorwürfe. Er wußte, daß Judas nicht
bereute. Das Geständnis, das sich dessen schuldbeladener Seele
entrang, war nur durch die schreckliche Angst vor der Verdammnis
und dem kommenden Gericht erzwungen worden. Er fühlte jedoch
keinen tiefen, herzzerreißenden Kummer darüber, daß er den Sohn
Gottes, der ohne jede Schuld war, verraten und den Heiligen in
Israel verleugnet hatte. Dennoch verdammte ihn Jesus mit keinem
Wort, sondern mitleidig schaute er Judas an und sagte: Wegen dieser
Stunde bin ich in die Welt gekommen.
Ein Räuspern der Überraschung ging durch die Versammlung.
Sie wunderten sich, als sie die Langmut Jesu mit dem Verräter
erlebten. Dieses Geschehen ließ aufs neue die Überzeugung in ihnen
aufklingen, daß dieser Mensch mehr als ein Sterblicher sei. Doch
wenn er Gottes Sohn sei, so fragten sie sich weiter, warum befreite
er sich dann nicht von seinen Banden und triumphierte über seine
Ankläger?
Als Judas erkannte, daß sein Bitten erfolglos blieb, rannte er aus
dem Richthause und rief laut: Es ist zu spät! Es ist zu spät! Er fühlte,
daß er es nicht ertragen konnte, den gekreuzigten Jesus ein Leben
lang vor sich zu sehen. Verzweifelt ging er hin und erhängte sich.
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Etwas später am gleichen Tage wurde auf dem Wege vom Pa-
last des Pilatus nach Golgatha das Geschrei und Gespött all der
bösartigen Menschen, die Jesus zur Kreuzigungsstätte begleiteten,
jäh unterbrochen. An einer einsamen Stelle erblickten sie am Fuße
eines abgestorbenen Baumes den Leichnam des Judas. Welch ein
abstoßendes Bild! Sein schwerer Körper hatte den Strick zerrissen,
mit dem er sich am Baum aufgehängt hatte. Durch den Sturz war
sein Leib aufgeplatzt, und gierig verschlangen ihn die Hunde. Seine
Überreste wurden sogleich außer Sichtweite begraben. Von nun an