Seite 73 - Das Leben Jesu (1973)

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Kapitel 9: Tage der Auseinandersetzung
Von klein auf war das jüdische Kind von den Forderungen der
Rabbiner gleichsam eingeschlossen. Strenge Vorschriften regelten
jede Handlung bis zu den geringfügigsten Dingen des Lebens. In
den Synagogen unterrichteten Lehrer die Jugend in den zahllosen
Satzungen, deren Befolgung von ihr als rechtgläubige Juden erwartet
wurde. Doch Jesus konnte dem nichts abgewinnen. Von Kindheit
an handelte er unabhängig von den Gesetzen der Rabbiner. Sein
ständiges Studium galt den Schriften des Alten Testaments, und die
Worte: „So spricht der Herr“ führte er stets im Munde.
Als ihm die Lage seines Volkes zum Bewußtsein kam, stellte
er fest, daß die Erfordernisse der Gesellschaft und die Gebote Got-
tes in ständigem Widerspruch miteinander standen. Die Menschen
wandten sich vom Worte Gottes ab und begeisterten sich für selbst-
erfundene Lehren. Sie richteten sich nach traditionellen Bräuchen,
die keinerlei Wert besaßen. Ihr Gottesdienst bestand lediglich aus
Zeremonien; doch die heiligen Wahrheiten, die diese lehren sollten,
blieben den Anbetenden verborgen. Jesus erkannte, daß die Men-
schen bei diesem glaubenslosen Gottesdienst keinen Frieden fanden.
Die Freiheit des Geistes, die ihnen zuteil würde, wenn sie Gott in
Wahrheit dienten, war ihnen unbekannt. Jesus war gekommen, um
die Menschen zu lehren, was Anbetung Gottes bedeutet. Er konnte
deshalb der Vermengung menschlicher Vorschriften mit den gött-
lichen Geboten nicht zustimmen. Zwar griff er die Weisungen und
Handlungen der gelehrten Lehrer nicht an, wurde er aber wegen
seiner eigenen schlichten Gewohnheiten getadelt, dann rechtfertigte
er sein Verhalten durch Gottes Wort.
Die Menschen, mit denen Jesus in Berührung kam, versuchte er
durch ein ruhiges und entgegenkommendes Verhalten zu erfreuen.
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Wegen seines sanftmütigen und zurückhaltenden Wesens meinten
die Schriftgelehrten und Ältesten ihn leicht durch ihre Lehren beein-
flussen zu können. Sie drängten ihn, doch die Lehren und Überlie-
ferungen anzunehmen, die von den Schriftgelehrten aus alter Zeit
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