Seite 756 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
den Heiland. Da ballte sich noch einmal dichtes Dunkel über ihnen
zusammen, und ein lautes Rollen, gleich einem heftigen Gewitter,
drang an ihr Ohr. Es war ein starkes Erdbeben, das die Gegend
erschütterte. Die Menschen wurden umhergeworfen; ein wildes
Durcheinander entstand. In den umliegenden Bergen zerbarsten die
Felsen und stürzten donnernd in die Tiefe; Gräber taten sich auf,
und die Toten wurden herausgeworfen. Es schien, als zerfiele die
ganze Schöpfung in kleinste Teile. Priester, Oberste, Soldaten, das
Kreuzigungskommando und alle andern lagen stumm vor Schreck
am Boden.
Als der Ruf: „Es ist vollbracht!“ über die Lippen Jesu kam,
wurde im Tempel gerade das Abendopfer dargebracht. Das Chri-
stus versinnbildende Opferlamm hatte man hereingeführt, damit
es geschlachtet würde. Mit seinem symbolträchtigten, prachtvollen
Gewand angetan, erhob der Priester gerade das Messer — ähnlich
wie Abraham, als er im Begriff war, seinen Sohn zu töten. Gebannt
verfolgt das Volk diese Handlung. Doch da zittert und bebt plötzlich
die Erde unter ihren Füßen, denn der Herr selbst nähert sich. Mit
durchdringendem Geräusch wird der innere Vorhang des Tempels
von einer unsichtbaren Hand von oben bis unten durchgerissen, und
das Allerheiligste, in dem Gott sich einst offenbart hatte, liegt den
Blicken des Volkes offen. Hier hatte die Herrlichkeit (Schechina)
Gottes geweilt, hier hatte Gott seine Macht über dem Gnadenstuhl
offenbart. Allein der Hohepriester durfte den Vorhang zurückschie-
ben, der den dahinterliegenden Raum vom übrigen Tempel trennte.
Einmal im Jahr ging er dort hinein, um die Sünden des Volkes zu
versöhnen. Doch dieser Vorhang ist nun in zwei Teile zerrissen. Der
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heiligste Ort des irdischen Heiligtums war nicht länger mehr eine
geweihte Stätte.
Überall herrschen Schrecken und Verwirrung. Der Priester woll-
te gerade das Opfertier töten, doch seiner kraftlosen Hand entfällt
das Schlachtmesser, und das Opferlamm entschlüpft. Vorbild und
Symbol begegnen sich im Tode Jesu Christi. Das große Opfer war
gebracht worden — der Weg zum Allerheiligsten ist geöffnet: ein
neuer, lebendiger Weg, der allen offensteht. Die sich ängstigende,
sündige Menschheit braucht nicht länger auf den Hohenpriester zu
warten; hinfort wird der Heiland selbst als Priester und Fürsprecher
der Menschen im Himmel dienen. Es war, als hätte eine lebendige