Seite 793 - Das Leben Jesu (1973)

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„Was weinest du?“
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Eine Not schien der andern zu folgen. Am sechsten Tage der
Woche hatten sie ihren Meister sterben sehen; am ersten Tag der
neuen Woche glaubten sie sich seines Leichnams beraubt und wur-
den selbst beschuldigt, ihn gestohlen zu haben, um auf diese Weise
das Volk zu täuschen. Sie zweifelten daran, sich jemals von die-
sem Verdacht reinigen zu können, der sich immer mehr verstärkte.
Dazu fürchteten sie die Feindschaft der Priester und den Zorn des
Volkes. Sie sehnten sich nach Jesu Gegenwart, der ihnen aus jeder
Verlegenheit geholfen hatte.
Oft wiederholten sie die Worte: „Wir aber hofften, er sei es, der
Israel erlösen würde.“
Lukas 24,21
. Allein gelassen und verzagten
Herzens dachten sie auch an Jesu Worte: „Denn so man das tut am
grünen Holz, was will am dürren werden?“
Lukas 23,31
. Sie fanden
sich im oberen Stockwerk zusammen und verschlossen und verrie-
gelten die Türen, wußten sie doch, daß sie jederzeit das Schicksal
ihres geliebten Meisters teilen konnten.
Wie groß aber hätte zur gleichen Zeit die Freude sein können,
da der Heiland ja auferstanden war! Maria hatte weinend im Garten
gestanden, als der Heiland sich bereits hinter ihr befand. Ihre Augen
waren so voller Tränen, daß sie ihn nicht erkannte. Und das Herz
der Jünger war so grambeschwert, daß sie weder der Botschaft der
Engel noch Christi eigenen Worten zu glauben vermochten.
Wie viele Christen handeln so wie die Jünger damals! Wie viele
klagen mit Maria: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich
weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“!
Johannes 20,13
. An wie
viele Menschen könnten Jesu Worte gerichtet sein: „Was weinest
du? Wen suchest du?“
Johannes 20,15
. Er steht dicht hinter ihnen,
aber ihre tränenverhangenen Augen bemerken ihn nicht; er spricht
zu ihnen, aber sie verstehen ihn nicht.
Daß sich doch diese gebeugten Häupter aufrichten, die verwein-
ten Augen ihn sehen und die Ohren seine Stimme hören möchten!
„Gehet eilend hin und sagt es seinen Jüngern, daß er auferstanden
sei von den Toten.“
Matthäus 28,7
. Bittet sie, ihren Blick nicht auf
Josephs neues Grab zu richten, das mit einem schweren Stein ver-
schlossen und mit dem römischen Siegel verwahrt war. Christus ist
nicht dort! Schaut auch nicht nach dem leeren Grab! Trauert nicht
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wie solche, die ohne Hoffnung und Hilfe sind. Jesus lebt! Und weil
er lebt, werden auch wir leben. Aus frohem Herzen und von Lippen,