Seite 196 - Patriarchen und Propheten (1999)

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Kapitel 20: Joseph in Ägypten
Unterdessen war Joseph mit den Männern, die ihn erworben
hatten, auf dem Wege nach Ägypten. Als sich die Karawane der
Südgrenze Kanaans näherte, konnte der junge Mann in der Ferne
die Hügel erkennen, zwischen denen die heimatlichen Zelte standen.
Bei dem Gedanken an seinen gütigen Vater weinte er in seiner
Einsamkeit und Not bitterlich.
Wiederum kam ihm das schlimme Geschehen bei Dothan in
Erinnerung. Er sah die zornigen Brüder und ihre grausamen Blicke
auf sich gerichtet. In seinen Ohren klangen noch die kränkenden
Schimpfworte, mit denen sie seinem angstvollen Flehen begegnet
waren. Er fürchtete sich vor der Zukunft. Wie war seine Lage doch
so ganz anders geworden: aus dem liebevoll umsorgten Sohn war ein
verachteter, abhängiger Sklave geworden! Und wie würde sich sein
Los in der Fremde gestalten, in die er zog, allein und ohne Freunde?
Eine Zeitlang überließ sich Joseph hemmungsloser Angst und Sorge.
Aber nach Gottes Vorsehung sollte selbst diese Erfahrung se-
gensreich für ihn werden. In wenigen Stunden hatte er gelernt, was
er sonst vielleicht in Jahren nicht begriffen hätte. So innig ihn der
Vater liebte, hatte er doch mit seiner Nachsicht und Parteinahme
nicht gut an ihm gehandelt. Seine unkluge Bevorzugung hatte die
anderen Söhne verärgert und zu der grausamen Tat angestachelt, die
ihn nun von der Heimat trennte. Die Folgen lagen auf der Hand und
zeigten sich auch in seinem eigenen Wesen. Seine Charakterschwä-
chen waren dadurch nur noch unterstützt worden und mußten nun
abgelegt werden. Joseph war im Begriff gewesen, selbstzufrieden
und anmaßend zu werden. Da er bis dahin nur die zärtliche Fürsorge
seines Vaters gewohnt war, litt er jetzt besonders unter den Schwie-
rigkeiten, denen er sich so unvorbereitet im Zusammenhang mit dem
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bitteren und ungeschützten Dasein eines Sklaven und Fremdlings
gegenüber gestellt sah.
Dann aber gingen seine Gedanken zu dem Gott seiner Väter.
Schon als Kind hatte man ihn gelehrt, diesen Gott zu fürchten und
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