Seite 389 - Das Wirken der Apostel (1976)

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Kapitel 48: Paulus vor Nero
Als Paulus zur Gerichtsverhandlung vor Kaiser Nero geladen
wurde, war sein baldiger Tod mit ziemlicher Gewißheit zu erwar-
ten. Das schwere Verbrechen, dessen man ihn beschuldigte, und die
feindselige Gesinnung den Christen gegenüber ließen einen günsti-
gen Ausgang kaum erhoffen.
Bei den Griechen und Römern war es Brauch, jedem Angeklag-
ten das Recht einzuräumen, sich einen Verteidiger zu nehmen, der
ihn vor Gericht vertrat. Durch klare Beweisführung, schlagfertige
Rede oder durch Anflehen, Bitten und Tränen gelang es solch einem
Verteidiger mitunter, eine günstige Entscheidung für den Angeklag-
ten herbeizuführen oder, wenn dies fehlschlug, zumindest die Härte
des Urteils zu mildern. Als aber Paulus vor Nero geladen wurde,
wagte niemand, für ihn als Ratgeber oder Verteidiger aufzutreten.
Kein Freund war anwesend, der die gegen ihn erhobenen Anklagen
oder die Argumente zu seiner Verteidigung aufgezeichnet hätte. Kei-
ner der Christen in Rom wagte es, dem Apostel in dieser schweren
Stunde beizustehen.
Den einzigen zuverlässigen Bericht über dieses Geschehen gibt
Paulus in seinem zweiten Brief an Timotheus: „Bei meinem ersten
Verhör stand mir niemand bei, sondern sie verließen mich alle. Es
sei ihnen nicht zugerechnet. Der Herr aber stand mir bei und stärkte
mich, auf daß durch mich die Verkündigung reichlich geschähe und
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alle Heiden sie hörten; so ward ich erlöst aus des Löwen Rachen.“
2.Timotheus 4,16.17
.
Paulus vor Nero — welch ein Gegensatz! Der hochmütige Herr-
scher, vor dem der Gottesmann sich um seines Glaubens willen zu
verantworten hatte, stand auf dem Gipfel weltlicher Macht, irdischen
Ansehens und Reichtums; er hatte aber auch die tiefste Stufe an La-
ster und Bosheit erreicht. An Macht und Größe konnte sich niemand
mit ihm vergleichen. Niemand wagte es, seine Autorität in Frage
zu stellen, noch sich seinem Willen zu widersetzen. Fürsten legten
ihre Kronen zu seinen Füßen nieder; mächtige Heere marschierten
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