Seite 209 - Das Leben Jesu (1973)

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Gefangenschaft und Tod des Johannes
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„Wolltet ihr ein Rohr sehen, das vom Wind bewegt wird?“
Lukas
7,24
.
Das hohe Schilf, das am Jordan wuchs und bei jeder Brise hin
und her wogte, war ein treffendes Bild für die Rabbiner, die sich zu
Kritikern und Richtern über des Täufers Dienst aufgeworfen hatten.
Bei jedem Sturm der öffentlichen Meinung schwankten sie bald in
diese, bald in jene Richtung. Einerseits wollten sie die Botschaft des
Täufers nicht demütig annehmen und ihre Herzen durchforschen, an-
derseits wagten sie es jedoch aus Furcht vor dem Volk nicht, seinem
Wirken offen entgegenzutreten. Aber der Bote Gottes war kein Feig-
ling. Die Volksmenge, die sich um Christus scharte, war Zeuge der
Tätigkeit des Johannes gewesen. Sie hatten gehört, wie furchtlos er
die Sünde gegeißelt hatte. Mit derselben Deutlichkeit hatte Johannes
zu selbstgerechten Pharisäern, priesterlichen Sadduzäern, zu König
Herodes und seinem Hofstaat, zu Fürsten und Soldaten, Zöllnern
und Bauern gesprochen. Er glich keinem schwankenden Schilfrohr,
das sich durch den Luftzug menschlichen Lobes oder Vorurteils
bewegen ließ. Selbst im Gefängnis war er in seiner Treue zu Gott
und seinem Streben nach Gerechtigkeit derselbe geblieben, der er
bei der Verkündigung der Botschaft Gottes in der Wüste gewesen
war. In seiner Grundsatztreue stand er fest wie ein Fels.
Jesus fuhr fort: „Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen?
Wolltet ihr einen Menschen in weichen Kleidern sehen? Siehe, die
da weiche Kleider tragen, sind in der Könige Häusern.“
Matthäus
11,8
. Johannes war berufen worden, die Sünden und Auswüchse
seiner Zeit zu tadeln. Seine schlichte Kleidung wie auch sein entsa-
gungsvolles Leben entsprachen genau dem Wesen seiner Botschaft.
Reiche Gewänder und luxuriöses Leben passen nicht zu Dienern
Gottes, sondern zu denen, die „in der Könige Häusern“ leben, zu
den Herrschern dieser Welt als Zeichen ihrer Macht und ihres Glanz-
es. Jesus hob bewußt den Gegensatz zwischen der Kleidung des
Johannes und der der Priester und der Mächtigen hervor. Diese Wür-
denträger hüllten sich in prächtige Gewänder und trugen kostbaren
Schmuck. Sie stellten sich gern zur Schau und hofften, dadurch das
Volk zu blenden und ihm mehr Achtung abzunötigen. Es ging ihnen
mehr darum, von Menschen bewundert zu werden, als ein reines
Herz zu erlangen, das Gottes Wohlgefallen findet. Auf diese Weise
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