Seite 212 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
ihn ergriffen würden.
Herodes hielt Johannes für einen Propheten Gottes und war fest
entschlossen, ihn freizulassen. Doch aus Furcht vor Herodias schob
er seine Absicht auf.
Herodias wußte, daß sie auf legale Weise niemals die Zustim-
mung des Herodes zum Tode des Johannes erlangen würde. So
beschloß sie, ihr Ziel durch List zu erreichen. Am Geburtstag des
Königs sollte den Würdenträgern des Staates und den Hofbeam-
ten ein Fest gegeben werden. Es würde geschlemmt und getrunken
werden. Dadurch würde Herodes nicht so auf der Hut sein, und sie
könnte ihn ihrem Willen gefügig machen.
Als der große Tag kam und der König mit seinen Würdenträgern
aß und trank, sandte Herodias ihre Tochter in den Festsaal, damit
sie zur Unterhaltung der Gäste tanzte. Salome befand sich im ersten
Stadium des Aufblühens ihrer Weiblichkeit, und ihre üppige Schön-
heit nahm die Sinne der adligen Zecher gefangen. Die Damen des
Hofes pflegten bei solchen Festlichkeiten nicht zu erscheinen, und
schmeichlerischer Applaus wurde Herodes dargebracht, als diese
Tochter israelitischer Priester und Fürsten zum Vergnügen seiner
Gäste tanzte.
Der König war vom Wein benommen. Die Leidenschaft herrsch-
te, die Vernunft war entthront. Er sah nur den Festsaal mit den
schwelgenden Gästen, die reichgedeckte Tafel, den funkelnden Wein,
die blinkenden Lichter und das junge Mädchen, das vor ihm tanzte.
In der Unbesonnenheit des Augenblicks wollte er irgend etwas tun,
womit er vor den Großen seines Reiches glänzen könnte. Mit einem
Schwur gelobte er, der Tochter der Herodias zu geben, was immer sie
erbitten mochte, und sei es die Hälfte seines Königreiches.
Matthäus
14,6.7
;
Markus 6,21-23
.
Salome eilte zu ihrer Mutter, um sich von ihr raten zu lassen, was
sie sich wünschen sollte. Die Antwort kam schnell: das Haupt Jo-
hannes des Täufers. Salome kannte nicht den Rachedurst im Herzen
ihrer Mutter, und es schauderte sie, diese Bitte vorzutragen; doch die
Entschiedenheit der Herodias gewann die Oberhand. Das Mädchen
kehrte zurück mit der entsetzlichen Bitte: „Gib mir her auf einer
Schüssel das Haupt Johannes des Täufers!“
Matthäus 14,8
.
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Herodes war überrascht und bestürzt. Die ausgelassene Fröhlich-
keit wich, und unheilvolles Schweigen legte sich über die Szene. Bei