Seite 214 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
sich ausplündern lassen.“
Jesaja 59,14.15
. Menschen, in deren Hän-
den die Gerichtsbarkeit über das Leben ihrer Mitmenschen liegt,
sollten eines Verbrechens für schuldig gesprochen werden, wenn sie
sich der Unmäßigkeit hingeben. Wer immer das Gesetz anwendet,
sollte selber das Gesetz halten. Er sollte stets die Kontrolle über
sich behalten und im Vollbesitz seiner körperlichen, geistigen und
sittlichen Kräfte bleiben, um jederzeit über Geisteskraft und hohen
Gerechtigkeitssinn verfügen zu können.
Das Haupt Johannes des Täufers wurde der Herodias gebracht,
die es mit teuflischer Genugtuung entgegennahm. Sie triumphierte in
ihrer Rache und gab sich der irrigen Hoffnung hin, daß das Gewissen
des Herodes nicht weiter beunruhigt sein werde. Aber sie sollte ihrer
Sünde nicht froh werden. Ihr Name wurde berüchtigt und verachtet,
während Herodes durch Gewissensbisse mehr gequält wurde als
jemals durch die Warnungen des Propheten. Der Einfluß der Predigt
des Johannes war keineswegs zum Schweigen gebracht; er sollte für
jede Generation bis zum Ende der Zeit erhalten bleiben.
Herodes sah seine Sünde immer vor sich. Unaufhörlich suchte
er von den Anklagen seines schuldigen Gewissens frei zu werden.
Sein Vertrauen zu Johannes blieb ungebrochen. Wenn er sich des-
sen Leben der Selbstverleugnung, seine ernsten und eindringlichen
Vorhaltungen sowie sein gesundes Urteil vor Augen hielt und dann
daran dachte, unter welchen Umständen er ihn hatte töten lassen,
konnte Herodes keine Ruhe finden. Bei seinen Staatsgeschäften oder
wenn Menschen ihm huldigten, trug er zwar ein lächelndes Antlitz
und eine würdevolle Miene zur Schau, darunter aber verbarg sich
ein verängstetes Herz, stets von der Furcht bedrückt, auf ihm laste
ein Fluch.
Die Worte des Johannes, daß vor Gott nichts verborgen bleibt,
hatten Herodes tief beeindruckt. Seiner Überzeugung nach war Gott
an jedem Ort gegenwärtig. Somit war er auch Zeuge der Schwelgerei
im Festsaal gewesen, hatte den Befehl zur Enthauptung des Johan-
nes gehört und das Frohlocken der Herodias sowie den Schimpf
gesehen, welches dem abgetrennten Haupt des Mannes galt, der
sie zurechtgewiesen hatte. Vieles von dem, was Herodes von den
Lippen des Propheten gehört hatte, sprach nun weit deutlicher zu
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seinem Gewissen als bei dessen Predigt in der Wüste.