Seite 291 - Das Leben Jesu (1973)

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Die Bergpredigt
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Die ersten Worte Christi auf dem Berge waren Worte des Segens.
Er preist diejenigen glücklich, die ihre geistliche Armut erkennen
und ihr Bedürfnis nach Erlösung fühlen; denn das Evangelium soll
den Armen gepredigt werden. Nicht den geistlich Stolzen, die be-
haupten, reich zu sein und nichts zu bedürfen, wird es offenbart,
sondern den Demütigen und Zerknirschten. Nur eine Quelle ist dem
Sünder heilsam — nur eine Quelle für die geistlich Armen.
Das stolze Herz strebt danach, das Heil zu erwerben. Unser An-
recht jedoch auf den Himmel und unsere Tauglichkeit dafür liegen
in der Gerechtigkeit Christi. Der Herr kann zur Erneuerung der Men-
schen nichts tun, bis der Mensch, überzeugt von seiner Schwäche
und frei von aller Überheblichkeit, sich ganz der Herrschaft Got-
tes übergibt. Erst dann kann er die Gabe empfangen, die Gott ihm
schenken will. Der Seele mit einem solchen Bedürfnis wird nichts
vorenthalten, sie hat ungehinderten Zutritt zu jenem, in dem alle
Fülle wohnt. „Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig
wohnt, dessen Name heilig ist: Ich wohne in der Höhe und im Hei-
ligtum und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind,
auf daß ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der
Zerschlagenen.“
Jesaja 57,15
.
„Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“
Matthäus 5,4
. Durch diese Worte lehrt Jesus nicht, daß im Leidtragen
die Macht liege, die Schuld der Sünde hinwegzunehmen; er billigt
keine Scheinheiligkeit oder vorgetäuschte Demut. Das Leidtragen,
von dem er spricht, besteht nicht in Trübsinn und Klagen. Während
wir aber über die Sünde trauern, sollen wir uns der köstlichen Gnade
freuen, Gottes Kinder zu sein.
Wir trauern oft, weil uns unsere bösen Taten unangenehme Fol-
gen bringen. Das aber ist keine Reue. Wahre Reue über die Sünde
wirkt nur der Heilige Geist. Der Geist offenbart die Undankbarkeit
des Herzens, das den Heiland vernachlässigt und betrübt hat, und
bringt uns in Zerknirschung zum Fuß des Kreuzes. Durch jede Sünde
wird Jesus aufs neue verwundet. Wenn wir auf ihn blicken, den wir
„durchbohrt haben“, trauern wir über die Sünde, die Qual über ihn
gebracht hat. Ein solches Leidtragen wird dazu führen, der Sünde
zu entsagen.
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Der weltlich gesinnte Mensch wird dieses Trauern eine Schwä-
che nennen. Es ist aber vielmehr die Kraft, die den Reuigen an den