Seite 297 - Das Leben Jesu (1973)

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Die Bergpredigt
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Welt gehört. Die Religion der Bibel soll nicht zwischen den Deckeln
eines Buches oder innerhalb der Kirchenmauern eingeschlossen sein;
sie soll nicht nur dann und wann zu unserer Wohlfahrt hervorge-
holt und dann sorgfältig wieder beiseite gelegt werden. Sie muß
vielmehr das tägliche Leben heiligen, sich in jedem geschäftlichen
Unternehmen, in allen gesellschaftlichen Beziehungen offenbaren.
Der wahre Charakter wird nicht äußerlich gebildet und angelegt;
er strahlt von innen heraus. Wollen wir andere auf den Weg der Ge-
rechtigkeit bringen, dann müssen die Grundsätze der Gerechtigkeit
in unseren eigenen Herzen gehegt werden. Unser Glaubensbekennt-
nis mag die Lehrsätze der Religion verkündigen; aber es ist unsere
praktische Frömmigkeit, die dem Wort der Wahrheit Nachdruck
verleiht. Ein gleichmäßiger Wandel, fromme Gespräche, unerschüt-
terliche Rechtschaffenheit, ein tätiger, wohlwollender Geist und das
göttliche Beispiel — das sind die Mittel, durch die der Welt das
Licht mitgeteilt wird.
Jesus hat sich nicht bei der Aufzählung des Gesetzes aufgehalten,
er ließ den Hörer aber auch nicht schlußfolgern, er sei gekommen,
die Gesetzesforderungen aufzuheben. Er wußte, daß Spitzel bereit-
standen, die jedes Wort aufgreifen würden, das sie für ihre Zwecke
verdrehen könnten. Ferner war ihm bekannt, welches Vorurteil sich
in den Vorstellungen vieler seiner Zuhörer festgesetzt hatte. Des-
halb sagte er nichts, was ihren Glauben an die Religion und die
Satzungen, die ihnen von Mose übermittelt worden waren, hätte
ins Wanken bringen können. Christus selbst war ja der Urheber
sowohl des Sitten- wie auch des Zeremonialgesetzes. Er war nicht
gekommen, das Vertrauen in seine eigene Unterweisung zu zerstö-
ren. Vielmehr suchte er die Mauer der überlieferten Satzungen, die
ein Hemmnis für die Juden waren, nur deshalb zu durchbrechen, weil
er große Hochachtung vor dem Gesetz und den Propheten empfand.
Während er einerseits die falschen Deutungen des Gesetzes seitens
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der Juden ablehnte, bewahrte er auf der anderen Seite seine Jünger
sorgfältig davor, sich von den lebendigen Wahrheiten zu trennen, die
den Hebräern anvertraut waren.
Die Pharisäer prahlten mit ihrem Gehorsam gegen das Gesetz; in
Wirklichkeit kannten sie so wenig von seinen Grundsätzen für das
tägliche Leben, daß des Heilandes Worte ihnen wie Ketzerei klangen.
Als er den Unrat wegfegte, der die Wahrheit verbarg, glaubten sie, er