Seite 355 - Das Leben Jesu (1973)

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„Ruhet ein wenig!“
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Die Jünger waren mit Christus gewesen und konnten ihn deshalb
verstehen. Zu ihnen brauchte er nicht in Gleichnissen zu reden. Er
berichtigte ihre Irrtümer und verdeutlichte ihnen, wie sie am besten
sich dem Volke nähern könnten. Dabei öffnete er ihnen mehr und
mehr die köstlichen Schätze der göttlichen Wahrheit. So wurden sie
mit göttlicher Kraft belebt und mit Hoffnung und Mut beseelt.
Obgleich Jesus Wunder wirken konnte und auch seinen Jüngern
diese Macht verliehen hatte, empfahl er seinen ermüdeten Mitar-
beitern, einen ländlichen Platz aufzusuchen und dort zu ruhen. Als
er ihnen sagte, daß die Ernte groß und der Arbeiter wenige seien,
wollte er nicht, daß sie nun unaufhörlich arbeiten sollten, sondern er
fügte hinzu: „Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in
seine Ernte sende.“
Matthäus 9,38
. Gott hat jedem seine Aufgabe
nach seiner Befähigung zugewiesen, und er will nicht, daß einige
durch eine allzu große Verantwortung beschwert werden, während
andere gegenüber ihren Mitmenschen weder Last noch Sorge fühlen.
Christi Worte des Mitgefühls gelten heute noch seinen Mitarbei-
tern, wie sie damals den Jüngern galten. „Geht ... an einen einsamen
Ort und ruht ein wenig!“
Markus 6,31 (Bruns)
. So sprach er zu den
Müden und Erschöpften. Es ist unklug, sich beständig dem Druck
der Arbeit und der Anspannung auszusetzen, selbst wenn diese Zeit
dazu dient, für das geistliche Wohl anderer zu sorgen; denn dadurch
wird die eigene Frömmigkeit vernachlässigt und die Kräfte des Gei-
stes, der Seele und des Körpers werden überanstrengt. Wohl müssen
die Jünger Jesu Selbstverleugnung üben und Opfer bringen; aber sie
müssen auch dafür Sorge tragen, daß durch ihren Übereifer Satan
nicht aus ihrer menschlichen Schwäche Vorteile gewinnt und das
Werk Gottes dadurch geschädigt wird.
Die Rabbiner hielten es für das Wesen der Religion, stets regste
Betriebsamkeit zu entfalten. Sie bewiesen ihre überlegene Frömmig-
keit durch äußerliche Leistungen. Sie trennten dadurch ihre Seele
von Gott und vertrauten allein sich selbst. In der gleichen Gefahr
stehen die Menschen heute noch. Nimmt ihre Regsamkeit zu und
ist ihr Wirken für Gott erfolgreich, laufen sie Gefahr, sich auf ihre
menschlichen Pläne und Methoden zu verlassen, weniger zu beten
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und weniger Glauben zu üben. Wir verlieren gleich den Jüngern
unsere Abhängigkeit von Gott aus den Augen und versuchen, uns
aus unserer Betriebsamkeit einen Heiland zu machen. Es ist nötig,