Seite 431 - Das Leben Jesu (1973)

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Wer ist der Größte?
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geben; dennoch sollten sie möglichst jeglichem Streit aus dem Weg
gehen.
Während Petrus zum See ging, weilte Christus mit den übrigen
allein im Hause. Diese rief er zusammen und fragte sie: „Was habt
ihr miteinander auf dem Weg verhandelt?“
Markus 9,33
. Die An-
wesenheit Jesu und seine Frage ließen die Angelegenheit in einem
völlig andern Licht erscheinen als vorher auf dem Wege, als die Jün-
ger sich herumgestritten hatten, und so schwiegen sie aus Scham und
Schuldgefühl. Jesus hatte ihnen mitgeteilt, daß er ihretwegen ster-
ben müßte. Ihr selbstsüchtiger Ehrgeiz stand jetzt in schmerzlichem
Gegensatz zu seiner selbstlosen Liebe.
Jesus sagte ihnen, daß er sterben und wiederauferstehen wer-
de, und versuchte dadurch, mit ihnen ein Gespräch über die große
Glaubensprüfung anzuknüpfen, die ihnen bevorstand. Wären sie
bereit gewesen, das aufzunehmen, was er ihnen mitteilen wollte, so
wären ihnen bittere Not und Verzweiflung erspart geblieben. Seine
Worte hätten sie in der Stunde der Verlassenheit und Enttäuschung
getröstet. Obwohl er so deutlich über das gesprochen hatte, was ihn
erwartete, entfachte die Erwähnung der Tatsache, daß er bald nach
Jerusalem ziehen müsse, in den Jüngern erneut die Hoffnung, daß
die Aufrichtung des Reiches unmittelbar bevorstehe. Dies hatte die
Frage veranlaßt, wer dann die höchsten Ämter einnehmen sollte.
Als Petrus vom See zurückgekehrt war, erzählten ihm die Jünger,
was der Heiland sie gefragt hatte. Schließlich wagte es einer von
ihnen, von Jesus wissen zu wollen: „Wer ist doch der Größte im
Himmelreich?“
Matthäus 18,1
.
Der Heiland scharte die Jünger um sich und erwiderte: „So je-
mand will der Erste sein, der soll der Letzte sein von allen und aller
Diener.“
Markus 9,35
. In diesen Worten lagen ein Ernst und ein
Nachdruck, die den Jüngern unverständlich waren. Von dem, was
Christus wahrnahm, sahen sie nichts. Noch verstanden sie das Wesen
des Reiches Christi nicht, und diese Unkenntnis war die scheinbare
Ursache ihres Streites. Der wahre Grund lag jedoch tiefer. Dadurch,
daß er das Wesen des Reiches erklärte, konnte Christus ihren Streit
vorübergehend schlichten, dessen eigentliche Ursache aber wurde
nicht berührt. Selbst nachdem sie über alles Bescheid wußten, hät-
te jede Rangfrage den Streit wieder aufleben lassen können. Nach
Christi Weggang wäre dadurch Unheil über die Gemeinde hereinge-
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