Seite 470 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Da hatte nun der Mann selber erklärt, daß er blind gewesen und
sehend geworden sei; doch die Pharisäer wollten lieber ihre eigenen
Sinne Lügen strafen, statt ihren Irrtum einzugestehen. So mächtig
ist ein Vorurteil, so entstellt ist pharisäische Gerechtigkeit.
Den Pharisäern war noch die eine Hoffnung geblieben, die El-
tern jenes Mannes einzuschüchtern. Scheinbar aufrichtig fragten sie:
„Wie ist er denn nun sehend?“
Johannes 9,19
. Die Eltern fürchteten,
sich zu gefährden; denn es war erklärt worden, daß jeder, der Jesus
„als den Christus bekannte, der sollte in den Bann getan werden“.
Johannes 9,22
. Er sollte für dreißig Tage aus der Synagogengemein-
schaft ausgeschlossen sein. Während dieser Zeit durfte im Heim
des Missetäters kein Kind beschnitten und kein Toter beklagt wer-
den. Dieser Urteilsspruch galt als großes Unglück. Auf ihn folgte,
wenn er nicht zur Reue führte, eine weit schwerere Strafe. Die große
Segenstat, die ihrem Sohn widerfahren war, hatte die Eltern zwar
überzeugt, dennoch antworteten sie: „Wir wissen, daß dieser unser
Sohn ist und daß er blind geboren ist. Wie er aber nun sehend ist,
wissen wir nicht; oder wer ihm hat seine Augen aufgetan, wissen
wir auch nicht. Er ist alt genug, fragt ihn, laßt ihn selbst für sich
reden.“
Johannes 9,20.21
. Auf diese Weise entledigten sie sich der
Verantwortung und schoben sie ihrem Sohn zu; denn sie wagten es
nicht, sich zu Christus zu bekennen.
Das Dilemma, in dem sich die Pharisäer befanden, ihre Fragen
und Vorurteile sowie ihr Unglaube gegenüber den Tatsachen öffneten
der Masse und besonders den einfachen Leuten die Augen. Jesus
hatte seine Wunder häufig auf offener Straße gewirkt und dabei stets
Leiden gelindert. Die Frage vieler lautete: Würde Gott so mächtige
Taten durch einen Betrüger vollbringen, als den die Pharisäer Jesus
bezeichneten? Der Streit nahm auf beiden Seiten an Heftigkeit zu.
Die Pharisäer merkten, daß sie Jesu Wirken der Öffentlichkeit
bekanntmachten. Sie konnten das Wunder ja nicht einfach leugnen.
Der Blinde war voller Freude und Dankbarkeit. Er bestaunte die
wunderbaren Dinge in der Natur und war über die Schönheit des
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Himmels und der Erde entzückt. Freimütig erzählte er von seinem
Erlebnis und wieder versuchten sie, ihn zum Schweigen zu bringen
mit den Worten: „Gib Gott die Ehre! Wir wissen, daß dieser Mensch
ein Sünder ist.“
Johannes 9,24
. Das sollte heißen: Behaupte nicht