Seite 496 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

492
Das Leben Jesu
19,2
. Mit allen diesen Lehren waren der Priester und der Levit ver-
traut, aber sie hatten sie nicht ins praktische Leben übertragen. In
[496]
der Schule blinden nationalen Eiferns waren sie eigennützig und
engherzig geworden und sonderten sich ab. Als sie auf den Verwun-
deten blickten, vermochten sie nicht zu erkennen, ob dieser zu ihrem
Volk gehörte oder nicht. Sie dachten nur, es könnte ein Samariter
sein, und deshalb wandten sie ihm den Rücken.
In der Handlungsweise des Priesters und des Leviten, wie sie
Christus beschrieben hatte, sah der Schriftgelehrte nichts, was den
Anforderungen des Gesetzes widersprochen hätte! Doch der Heiland
erzählte weiter: „Ein Samariter aber reiste und kam dahin; und da
er ihn sah, jammerte ihn sein, ging zu ihm, goß Öl und Wein auf
seine Wunden und verband sie ihm und hob ihn auf sein Tier und
führte ihn in eine Herberge und pflegte sein. Des andern Tages zog
er heraus zwei Silbergroschen und gab sie dem Wirte und sprach
zu ihm: Pflege sein, und so du was mehr wirst dartun, will ich dir‘s
bezahlen, wenn ich wiederkomme.“
Lukas 10,35
.
Die Erzählung war beendet. Jesus schaute den Schriftgelehrten
lange an und fragte: „Welcher dünkt dich, der unter diesen Dreien
der Nächste sei gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“
Lukas 10,36
.
Der Schriftgelehrte vermied selbst jetzt noch, den Namen Sa-
mariter auf seine Lippen zu nehmen, und antwortete nur: „Der die
Barmherzigkeit an ihm tat.“ Da entließ ihn der Herr mit den Worten:
„So gehe hin und tue desgleichen!“
Lukas 10,37
.
Auf diese Weise wurde die Frage: „Wer ist denn mein Nächster?“
für immer beantwortet. Christus hat gezeigt, daß unser Nächster nicht
nur der ist, der in derselben Gemeinschaft lebt wie wir, der unseren
Glauben teilt. Geschlecht, Rang und Rasse bilden keine Schranke.
Unser Nächster ist jeder, der unmittelbar unsere Hilfe nötig hat, jede
Seele, die verwundet und zerschlagen ist von ihrem Widersacher,
jedes Geschöpf, das Gott geschaffen hat und das sein Eigentum ist.
In dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter beschrieb uns
der Heiland sein Wesen und seine Aufgabe. Die Menschen sind von
Satan betrogen, geschlagen, beraubt und dem Verderben überlassen
worden, aber der Heiland hat sich ihrer Hilflosigkeit erbarmt. Er ver-
ließ seine Herrlichkeit, um uns zu retten. Er fand uns dem Untergang
nahe und setzte sich für uns ein; er heilte unsere Wunden, bedeckte