Seite 554 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
schichte von der großen Liebe Gottes zu dem gefallenen Geschlecht
erzählen.
Welch großer Unterschied bestand auch in der Tat Marias zu
dem Vorhaben des Verräters, der hier so viel Entrüstung heuchel-
te! Welch scharfen Tadel hätte Christus dem erteilen können, der
die Saat boshafter Kritik und teuflischen Argwohns in die Herzen
der Jünger ausstreute! Und wie gerecht wäre solch ein Tadel gewe-
sen! Jesus, der aller Menschen Gedanken schon „von ferne“ (
Psalm
139,2
) kennt und jede Handlung versteht, hätte auf diesem Fest allen
Anwesenden die trüben Seiten im Leben des Judas zeigen können.
Der faule Vorwand, auf den der Verräter seine Worte bezog, hät-
te offen dargelegt werden können; denn statt mit den Bedürftigen
zu fühlen, beraubte er sie des Geldes, das zu ihrer Unterstützung
bestimmt war. Wegen seiner Härte gegen die Witwen, Waisen und
Tagelöhner hätte sich Unwillen gegen ihn erhoben. Doch hätte Chri-
stus den wahren Charakter des Judas entlarvt, würde es dieser als
einen Grund für seinen Treubruch angesehen haben. Und obgleich
man ihn als Dieb beschuldigte, hätte Judas Sympathien gewonnen,
selbst unter den Jüngern. Der Heiland machte ihm keine Vorwürfe,
und dadurch vermied er es, ihm einen Entschuldigungsgrund für
seinen Verrat zu geben.
Doch der Blick, den Jesus auf ihn warf, überzeugte Judas, daß
der Heiland seine Heuchelei durchschaute und seinen niedrigen, ver-
achtenswerten Charakter erkannte. In Jesu herzlicher Anerkennung
gegenüber der Tat Marias lag für Judas ein mahnender Vorwurf.
Bisher hatte der Heiland ihm nie einen unmittelbaren Verweis aus-
gesprochen. Nun aber nagte Jesu Tadel an seinem Herzen, und er
faßte den Entschluß, sich zu rächen. Nach der Abendmahlzeit begab
er sich sofort in den Palast des Hohenpriesters, wo er den Hohen Rat
versammelt fand, und erbot sich, den Herrn in ihre Hände zu liefern.
Die Priester waren hocherfreut. Diese Führer Israels hätten un-
entgeltlich und ohne nach einem Preis zu fragen Christus als ihren
Heiland annehmen können. Aber sie lehnten die kostbare Gabe ab,
die der sanfte Geist werbender Liebe ihnen anbot. Sie weigerten
sich, jenes Heil anzunehmen, das wertvoller ist als Gold, und kauften
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ihren Herrn für dreißig Silberlinge.
Judas hatte sich so sehr der Habgier ausgeliefert, daß sie jeden
guten Zug seines Charakters überschattete. Ihn verdroß die Gabe die