Seite 556 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Die Tat Marias enthielt gerade die Lehre, die die Jünger benö-
tigten, um ihnen zu zeigen, daß die Bekundung ihrer Liebe zu ihm
Jesus angenehm sein würde. Er war ihnen alles gewesen, und sie
erkannten nicht, daß sie bald seiner Gegenwart beraubt sein würden
und daß sie ihm dann kein Zeichen ihrer Dankbarkeit für seine un-
nennbare Liebe mehr geben konnten. Die Einsamkeit Christi, der,
getrennt von den himmlischen Höfen, das Leben nach menschlicher
Natur lebte, wurde von den Jüngern nie verstanden oder gewürdigt,
wie man es hätte erwarten sollen. Jesus war oft betrübt, weil seine
Jünger ihm nicht das gaben, was er von ihnen zu empfangen hoffte.
Er wußte aber, daß sie unter dem Einfluß himmlischer Engel, die ihn
begleiteten, keine Gabe als zu wertvoll erachten würden, um ihre
innere Verbundenheit mit ihm zu bekunden.
Ihre spätere Erkenntnis gab den Jüngern ein echtes Gefühl für
die kleinen Dinge, die sie Jesus hätten erweisen können, um ihre
Liebe und Dankbarkeit zu zeigen, als sie bei ihm waren. Als Jesus sie
verlassen hatte und sie sich wirklich als Schafe ohne Hirten fühlten,
begannen sie zu erkennen, wie sie ihm hätten Aufmerksamkeiten
bezeugen können, die ihn erfreut hätten. Sie blickten nun nicht mehr
tadelnd auf Maria, sondern sie sahen sich selbst an. Oh, könnten
sie doch ihre Rügen und ihren Anspruch, daß die Armen der Gabe
würdiger gewesen wären als Christus, zurücknehmen! Sie fühlten
sich tief beschämt, als sie den zerschlagenen Leib ihres Herrn vom
Kreuz nahmen.
Der gleiche Mangel tritt in unseren Tagen zutage. Nur wenige
erkennen Christi Bedeutung für sie. Sonst machte solch selbstlo-
se Liebe, wie sie einst Maria dem Herrn erwiesen hatte, sich im
täglichen Leben bemerkbar, die Salbung erfolgte freiwillig, und die
kostspielige Salbe würde nicht eine Verschwendung genannt werden.
Nichts dünkte ihnen zu teuer, um es dem Herrn zu bringen, keine
Selbstverleugnung und keine Hingabe wäre zu groß gewesen, um
sie seinetwegen zu ertragen.
[557]
Die entrüsteten Worte der Jünger: „Wozu diese Vergeudung?“
(
Matthäus 26,8.9
) ließen dem Heiland das größte Opfer, das je ge-
bracht werden sollte, lebendig vor Augen treten — nämlich das
Opfer seines Lebens als Sühne für eine verlorene Welt. Der Herr
würde die menschliche Familie so überaus reichlich beschenken,
daß man von ihm nicht sagen konnte, er könne noch mehr tun. In der