Seite 558 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
beachtet. Daß sie Jesu Füße küßte und salbte, reizte seine Harther-
zigkeit. Er dachte, wenn Christus ein Prophet wäre, würde er die
Sünder erkennen und tadeln.
Auf diese unausgesprochenen Gedanken antwortete der Heiland:
„Simon, ich habe dir etwas zu sagen ... Es hatte ein Gläubiger zwei
Schuldner. Einer war schuldig fünfhundert Silbergroschen, der an-
dere fünfzig. Da sie aber nichts hatten, zu bezahlen, schenkte er‘s
beiden. Sage an, welcher unter denen wird ihn am meisten lieben?
Simon antwortete und sprach: Ich achte, dem er am meisten ge-
schenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.“
Lukas
7,40-43
.
Wie einst der Prophet Nathan bei David, so hüllte auch hier
Christus eine tadelnde Antwort in den Schleier eines Gleichnisses
und veranlaßte dadurch den Gastgeber, sein eigens Urteil zu spre-
chen. Simon hatte die Frau, die er jetzt verachtete, selbst zur Sünde
verleitet und ihr großes Unrecht zugefügt. In Jesu Gleichnis von
den zwei Schuldnern wurden Simon und das Weib dargestellt. Der
Heiland wollte nicht lehren, daß beide ein verschieden großes Maß
der Schuld verspüren sollten; denn auf jedem lastet eine Schuld der
Dankbarkeit, die er niemals abtragen konnte. Und doch hielt sich
Simon für gerechter als Maria, und Jesus wollte ihm zeigen, wie groß
seine Schuld wirklich war. Er wollte ihn erkennen lassen, daß seine
Schuld größer war als die Marias, um so viel größer, wie eine Schuld
von fünfhundert Silbergroschen jene von fünfzig Silbergroschen
übersteigt.
Simon sah sich jetzt in einem andern Licht. Er sah auch, wie
Maria von dem eingeschätzt wurde, der mehr als ein Prophet war
und mit seinem göttlichen Auge die Größe ihrer Liebe und Hingabe
in ihrem Herzen las. Scham kam über Simon, und er erkannte, daß
er sich in der Gegenwart des Einen befand, der größer war als er.
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Da sprach der Herr weiter zu ihm: „Ich bin gekommen in dein
Haus; du hast mir nicht Wasser gegeben für meine Füße; diese
aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit den Haaren ihres
Hauptes getrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben; diese aber,
nachdem ich hereingekommen bin, hat nicht abgelassen, meine Füße
zu küssen.“
Lukas 7,44.45
. Christus erinnerte Simon an die vielen
Gelegenheiten, die er gehabt hatte, seine Liebe zu beweisen und das
zu würdigen, was für ihn getan worden war. Unmißverständlich,