Seite 559 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Fest im Hause Simons
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aber höflich versicherte der Heiland seinen Jüngern, daß sein Herz
betrübt ist, wenn seine Kinder ihm weder durch Worte noch durch
Taten der Liebe ihre Dankbarkeit zeigen wollen.
Der Herzenserforscher kannte die Motive der Tat Marias, und
er wußte auch um die Gedanken Simons. „Siehst du dies Weib?“
fragte er ihn. Sie ist eine Sünderin. Aber ich sage dir: „Ihr sind viele
Sünden vergeben, darum hat sie mir viel Liebe erzeigt; wem aber
wenig vergeben wird, der liebt wenig.“
Lukas 7,44.47
.
Simons Kälte und Geringschätzung gegenüber dem Heiland zeig-
te, wie wenig er die ihm erwiesene Barmherzigkeit zu achten wußte.
Er glaubte den Herrn zu ehren, indem er ihn in sein Haus einlud;
doch jetzt mußte er einsehen, wie es wirklich war. Während er sich
einbildete, seinen Gast beurteilen zu können, mußte er erleben, daß
Jesus ihn besser kannte als er sich selbst. Seine Frömmigkeit war
wirklich die eines Pharisäers gewesen. Er hatte die Barmherzigkeit
Jesu verachtet und den Herrn nicht anerkannt als den Stellvertreter
Gottes. Während Maria eine begnadigte Sünderin war, hatte er sich
seine Schuld noch nicht nehmen lassen. Die strengen Regeln der
Gerechtigkeit, die er auf Maria anwendete, verdammten ihn nun
selbst.
Die vornehme Art Jesu, ihn nicht öffentlich vor seinen Gästen
zu tadeln, beeindruckte Simon. Er wurde nicht so behandelt, wie
er Maria zu behandeln verlangt hatte. Er erkannte, daß Jesus sein
schuldhaftes Verhalten nicht vor den andern preisgeben wollte, son-
dern daß er durch eine wahrhafte Darlegung der Dinge sein Gemüt
zu überzeugen und durch Güte sein Herz zu bezwingen suchte. Eine
harte Anklage hätte Simons Gemüt gegen eine Umkehr verschlos-
sen, geduldige Ermahnung aber überzeugte ihn von seinem Irrtum.
Er erkannte die Größe seiner Schuld gegenüber dem Herrn. Sein
Hochmut war gebrochen, er bereute sein Unrecht, und der stolze,
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eigenwillige Pharisäer wurde ein bescheidener, sich selbst aufop-
fernder Jünger Jesu Christi.
Maria war allgemein als große Sünderin angesehen worden, doch
Jesus kannte die Umstände, die ihr Leben bisher beeinflußt hatten.
Er hätte jeden Funken Hoffnung in ihr auslöschen können, tat es
aber nicht. Er hatte sie vielmehr aus Verzweiflung und Verderben
herausgerissen; siebenmal waren die bösen Geister, die ihr Herz
und Gemüt beherrscht hatten, aus ihr ausgefahren. Sie hatte seine