Seite 608 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
ihre Gaben in den Kasten zu legen, schreckte sie zurück, als ob es
großen Mut kostete, sich weiter heranzuwagen. Dennoch verlangte
es sie, für die Sache, die sie liebte, ebenfalls etwas zu geben, sei es
auch noch so gering. Die Frau schaute auf die Münzen in ihrer Hand.
Es war wenig im Vergleich zu den Gaben der anderen; doch es war
alles, was sie besaß. Sie paßte eine günstige Gelegenheit ab, warf
rasch ihre zwei Scherflein in den Kasten und ging eilends davon.
Dabei begegnete sie dem Blick Jesu, der mit großem Ernst auf ihr
ruhte.
Jesus rief seine Jünger zu sich und lenkte ihre Aufmerksam-
keit auf die Armut der Witwe. Dann sprach er die lobenden Wor-
te: „Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den
Gotteskasten gelegt als alle, die eingelegt haben.“
Markus 12,43
.
Freudentränen standen bei diesen Worten in den Augen der armen
Frau; sie fühlte ihre Tat verstanden und gewürdigt. Viele würden ihr
geraten haben, ihre kleine Gabe für sich zu behalten, da sie in den
Händen der wohlgenährten Priester unter den vielen reichen Gaben,
die in die Schatzkammer gebracht wurden, nichts bedeutete. Aber
Jesus kannte ihr Herz. Sie glaubte, daß der Tempeldienst von Gott
eingesetzt war, und sie zeigte sich eifrig bestrebt, alles ihr mögliche
zu tun, um ihn zu unterstützen. Weil sie tat, was sie konnte, wurde
ihr Handeln für alle Zeit ein Denkmal zu ihrem Gedächtnis. Sie hatte
ihr Herz sprechen lassen. Ihre Gabe wurde nicht nach dem Wert der
Münze beurteilt, sondern vielmehr nach der Liebe zu Gott und der
Anteilnahme an seinem Werk, die sie ja zu jener Gabe veranlaßt
hatte.
Jesus sagte von der armen Witwe, daß sie mehr als sie alle ein-
gelegt habe. Die Reichen hatten von ihrem Überfluß gegeben, viele
sogar lediglich aus dem Grunde, um von andern gesehen und geehrt
zu werden. Ihre große Gabe hatte weder ihrer Bequemlichkeit noch
ihrem Überfluß Abbruch getan. Es war für sie kein wirkliches Opfer,
und ihre Gabe hielt keinen Vergleich aus mit dem Scherflein der
Witwe.
Das Motiv ist es, das für unsere Handlungen maßgebend ist;
es bestimmt ihren Wert oder Unwert. Nicht die großen Dinge, die
jedes Auge sieht und jede Zunge lobt, nennt Gott die köstlichsten,
sondern es sind die kleinen, freudig erfüllten Pflichten, geringe,
unauffällige Gaben, die menschlichen Augen wertlos dünken mögen,
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