Seite 610 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
wenn aber einer schwört bei dem Gold am Tempel, das bindet. Ihr
Narren und Blinden! Was ist größer: das Gold oder der Tempel, der
das Gold heiligt? Oder: Wenn einer schwört bei dem Altar, das gilt
nicht; wenn aber einer schwört bei dem Opfer, das darauf ist, das
bindet. Ihr Blinden! Was ist größer: das Opfer oder der Altar, der
das Opfer heiligt?“
Matthäus 23,16-19
. Die Priester legten Gottes
Forderungen nach ihren eigenen falschen und beengten Begriffen
aus. So erkühnten sie sich, spitzfindige Unterschiede im Hinblick
auf die jeweilige Höhe der Schuld bei verschiedenen Sünden auf-
zustellen. Dabei gingen sie über einige Sünden leicht hinweg und
stellten andere, die mitunter weniger verderbliche Folgen zeitigten,
als unvergebbar hin. Für eine finanzielle Gegenleistung entbanden
sie zum Beispiel jemanden von einem bereits geleisteten Eid. Für
entsprechend höhere Geldsummen waren sie manchmal sogar be-
reit, weit schlimmere Verbrechen zu dulden. Zur gleichen Zeit aber
verhängten dieselben Priester und Obersten in anderen Fällen harte
Strafen für unbedeutende Übertretungen.
„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr
verzehntet Minze, Dill und Kümmel und lasset dahinten das Wich-
tigste im Gesetz, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den
Glauben! Dies sollte man tun und jenes nicht lassen.“
Matthäus
23,23
. Der Heiland verurteilt hier noch einmal den Mißbrauch heili-
ger Verpflichtungen. Die Verpflichtung selbst ließ er bestehen. Die
Gabe des Zehnten war von Gott eingesetzt, sie ist von den frühesten
Zeiten an eingehalten worden. Abraham, der Vater der Gläubigen,
bezahlte den Zehnten von allem, was er hatte. Auch die jüdischen
Obersten anerkannten zu Recht die Pflicht, den Zehnten zu geben;
sie ließen jedoch das Volk nicht nach eigener Überzeugung handeln.
Für jeden Fall hatten sie willkürlich Regeln aufgestellt, und die For-
derungen waren so erschwert worden, daß es dem Volke unmöglich
war, sie zu erfüllen; niemand wußte, wann er seinen Verpflichtungen
nachkam. Gottes Gebot, wie er es gegeben hatte, war gerecht und
vernünftig, aber die Priester und Rabbiner hatten es zu einer Last
gemacht.
Jede göttliche Verordnung ist bedeutungsvoll. Jesus betrachtete
das geben des Zehnten als selbstverständliche Verpflichtung, machte
aber darauf aufmerksam, daß es keineswegs die Vernachlässigung
anderer Pflichten entschuldige. Die Pharisäer waren sehr genau im
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