Seite 619 - Das Leben Jesu (1973)

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Im Vorhof des Tempels
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und „sterben“; das Leben muß in die Ackerfurche der Weltnot ge-
worfen werden, und Selbstliebe und Eigensucht müssen absterben.
Das Gesetz der Selbstaufopferung ist das Gesetz der Selbsterhal-
tung. Der Landmann erhält sein Korn, indem er es fortwirft und
der Erde anvertraut; so ist es auch im menschlichen Leben. Geben
heißt leben! Das Leben, das erhalten bleibt, ist das Leben, welches
freiwillig in den Dienst Gottes und der Menschen gestellt wird. Wer
um Christi willen sein Leben in dieser Welt opfert, wird es für das
ewige Leben bewahren.
Das eigennützige Leben gleicht dem Korn, das gegessen wird; es
verschwindet, aber es vermehrt sich nicht. Ein Mensch mag dauernd
für sich schaffen und sammeln; er mag für sich planen und denken
— sein Leben wird vergehen und wird ihm nichts gebracht haben.
Das Gesetz des Sich-selbst-Dienens ist im geistlichen Leben das
Gesetz der Selbstvernichtung.
„Wer mir dienen will“, sagte Jesus, „der folge mir nach; und
wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen
wird, den wird mein Vater ehren.“
Johannes 12,26
. Alle, die mit
dem Herrn das Kreuz der Hingabe getragen haben, werden auch an
seiner Herrlichkeit teilhaben. Es war des Heilandes Freude in seiner
Erniedrigung und in seinem Schmerz, daß seine Jünger mit ihm
verherrlicht würden. Sie sind die Frucht seiner Selbstaufopferung.
Die Bekundung seines Wesens und seines Geistes im Leben der
Jünger ist sein Lohn und wird in Ewigkeit seine Freude sein. Diese
Freude teilen sie mit ihm, wenn sich die Frucht ihrer Arbeit und
ihres Opfers im Leben und in den Herzen anderer zeigt. Sie sind des
Herrn Mitarbeiter, und Gott wird sie ehren, wie er seinen Sohn ehrt.
Durch die Botschaft der Griechen, die die Einsammlung aller
Heiden ankündigte, wurde Jesus an seine Sendung erinnert. Das
ganze Erlösungswerk von der Zeit an, da es im Himmel geplant
wurde, bis zu seinem baldigen Tode auf Golgatha zog an seinem
geistigen Auge vorüber. Eine geheinnisvolle Wolke, deren Schatten
alle Umstehenden bemerkten, schien den Sohn Gottes einzuhüllen,
während er selbst gedankenverloren dasaß. Schließlich unterbrach er
das Schweigen mit trauriger Stimme: „Jetzt ist meine Seele betrübt.
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Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde?“
Johannes
12,27
. Der Heiland schmeckte schon den bitteren Kelch, und das
Menschliche in ihm schreckte zurück vor der Stunde des Verlas-