Seite 672 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
anhangen. Hätte er die Warnung demütig angenommen, so würde
er den Hirten der Herde gebeten haben, seine Schafe zu bewahren.
Als er einst auf dem See Genezareth am Versinken war, hatte er
nach dem Herrn gerufen: „Herr, hilf mir!“ Und Christus hatte seine
Hand ausgestreckt und ihn ergriffen. So wäre er auch jetzt bewahrt
worden, wenn er seinen Heiland gebeten hätte: Hilf mir vor mir sel-
ber! Aber Petrus empfand Jesu Worte nur als Mißtrauen und fühlte
sich gekränkt; sein Selbstvertrauen jedoch war nicht im geringsten
erschüttert.
Der Herr schaute voller Mitleid auf seine Jünger. Er konnte sie
nicht vor der kommenden Versuchung bewahren, aber er verließ sie
nicht ungetröstet. Er gab ihnen die Zusicherung, daß er die Fesseln
des Grabes zerbrechen und daß seine Liebe zu ihnen niemals aufhö-
ren werde. „Wenn ich aber auferstehe“, sagte er, „will ich vor euch
hingehen nach Galiläa.“
Matthäus 26,32
. Schon vor der Verleugnung
erhielten sie die Gewißheit seiner Vergebung. Nach seinem Tode
und seiner Auferstehung wußten sie, daß ihnen vergeben war und
daß sie dem Herzen Christi nahestanden.
Der Heiland befand sich mit seinen Jüngern auf dem Wege nach
Gethsemane, einem ruhig gelegenen Ort am Fuße des Ölberges, den
der Herr oft aufgesucht hatte, um nachzudenken und zu beten. Jesus
hatte den Jüngern das Wesen seiner Sendung und ihre geistliche
Bindung zu ihm, die sie unterhalten sollten, erklärt. Nun veran-
schaulichte er ihnen diese Erklärung. Das silberne Licht des Mondes
enthüllte einen Weinstock, der voller Reben war. Der Heiland lenkte
die Aufmerksamkeit der Jünger auf dieses Bild und benutzte es als
Symbol.
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„Ich bin der rechte Weinstock“ (
Johannes 15,1
), sagte er. Statt
die anmutige Palme, die stattliche Zeder oder die starke Eiche für
seinen Vergleich heranzuziehen, wies der Herr auf den Weinstock
mit den sich anklammernden Ranken und verglich sich mit ihm.
Palmen, Zedern und Eichen stehen allein; sie brauchen keine Stütze.
Der Wein aber rankt sich am Spalier entlang und strebt dadurch
himmelwärts. So war Christus als Mensch von der göttlichen Macht
abhängig. „Der Sohn kann nichts von sich selber tun“ (
Johannes
5,19
), erklärte er.
„Ich bin der rechte Weinstock.“ Die Juden hatten den Weinstock
stets als die edelste aller Pflanzen betrachtet; sie nahmen ihn als