Seite 68 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
So aber schmeichelten sie sich, ihn zu lehren oder wenigstens seine
Kenntnisse in den Schriften zu prüfen. Jesu Bescheidenheit und An-
mut entwaffnete ihre Vorurteile. Unbewußt wurde so ihr Verständnis
für das Wort Gottes geöffnet, und der Heilige Geist sprach zu ihren
Herzen.
Die Schriftgelehrten mußten einsehen, daß ihre Erwartungen
hinsichtlich des Messias durch das Wort der Weissagung nicht ge-
stützt wurden. Sie wollten jedoch die Lehrpunkte, die ihrem Ehrgeiz
falsche Hoffnungen erweckt hatten, nicht widerrufen. Sie wollten
nicht zugeben, daß ihre Auslegung der heiligen Schriften auf Irrtum
aufgebaut war. Sie fragten sich gegenseitig: Woher hat dieser Jüng-
ling sein Wissen, da er doch keine Schule besuchte? Ja, das Licht
schien in der Finsternis, die Finsternis aber „hat‘s nicht ergriffen“.
Johannes 1,5
.
Unterdessen befanden sich Maria und Joseph in großer Sorge und
Unruhe. Beim Verlassen Jerusalems hatten sie Jesus aus den Augen
verloren; sie wußten nicht, daß er in der Stadt zurückgeblieben
war. Das Land war damals dicht bevölkert, und die Karawanen aus
Galiläa waren sehr groß. Es gab viel Durcheinander, als sie die
Stadt verließen. Auf dem Wege nahm die Freude, mit Freunden und
Bekannten zu reisen, ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und
erst bei Anbruch des Abends bemerkten sie seine Abwesenheit; denn
als sie zur Rast anhielten, vermißten sie die helfende Hand ihres
Jungen. Doch sie waren immer noch unbesorgt, da sie ihn unter ihrer
Reisegesellschaft vermuteten. Jung wie er war, hatten sie ihm blind
vertraut, und sie hatten erwartet, daß er, wenn nötig, bereit wäre,
ihnen zu helfen, indem er ihre Wünsche vorausahnte, so wie er es
stets getan hatte. Doch nun erwachten ihre Ängste. Sie suchten ihn
überall unter ihrer Reisegesellschaft, aber vergebens. Schaudernd
fiel ihnen ein, wie Herodes versucht hatte, das Jesuskindlein zu töten.
Trübe Ahnungen erfüllten ihre Herzen, und sie machten sich wegen
ihrer Sorglosigkeit große Vorwürfe.
Sie kehrten nach Jerusalem zurück und setzten hier ihr Suchen
fort. Als sie am nächsten Tag auch den Tempel aufsuchten und sich
unter die Gläubigen mischten, fesselte eine vertraute Stimme ihre
Aufmerksamkeit. Sie konnten sich nicht irren; keine Stimme war
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der seinen gleich, so feierlich, ernst und dennoch angenehm klang
sie.