Seite 684 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Seht ihn über den Preis nachsinnen, der für die menschliche
Seele bezahlt werden muß! In seiner Angst krallt er sich fest in die
kalte Erde, als ob er verhindern wolle, seinem Vater noch ferner zu
rücken. Der frostige Tau der Nacht legt sich auf seine hingestreckte
Gestalt, aber er merkt es nicht. Seinen bleichen Lippen entringt
sich der qualvolle Schrei: „Mein Vater, ist‘s möglich, so gehe dieser
Kelch an mir vorüber.“ Und er fügt hinzu: „Doch nicht wie ich will,
sondern wie du willst!“
Matthäus 26,39
.
Das menschliche Herz sehnt sich im Schmerz nach Anteilnah-
me; auch Christus war in seinem Innersten von dieser Sehnsucht
erfüllt. In äußerster seelischer Not kam er zu seinen Jüngern mit
dem brennenden Verlangen, bei ihnen, die er so oft gesegnet und
getröstet sowie in Kummer und Verzweiflung behütet hatte, einige
Worte des Trostes zu finden. Er, der für sie stets Worte des Mitge-
fühls gehabt hatte, litt jetzt selbst übermenschliche Schmerzen und
sehnte sich danach, zu wissen, daß sie für sich und für ihn beteten.
Wie dunkel erschien die Boshaftigkeit der Sünde! Ungeheuer groß
war die Versuchung, dem Menschengeschlecht selbst die Folgen der
eigenen Schuld aufzubürden, während er unschuldig vor Gott stünde.
Wenn er nur wüßte, daß seine Jünger das erkannten und begriffen;
es würde ihn mit neuer Kraft erfüllen.
Nachdem er sich unter quälender Mühe erhoben hatte, wankte
er zu dem Platz, an dem er seine Getreuen zurückgelassen hatte;
aber er „fand sie schlafend“.
Matthäus 26,40
. Wenn er sie betend
gefunden hätte, wie würde es ihm geholfen haben! Wenn sie bei
Gott Zuflucht gesucht hätten; damit die teuflischen Mächte sie nicht
überwältigen könnten, dann wäre er durch ihren standhaften Glauben
getröstet worden. Sie hatten aber seine mehrmalige Aufforderung:
„Wachet und betet!“ (
Matthäus 26,41
) schlecht beherzigt. Zuerst
waren sie sehr beunruhigt gewesen, ihren Meister, der sonst so ruhig
und würdevoll auftrat, mit einem Schmerz ringen zu sehen, der alle
Fassungskraft überstieg. Sie hatten gebetet, als sie die laute Qual
des Leidenden hörten, und sie wollten keineswegs ihren Herrn im
Stich lassen. Doch sie schienen wie gelähmt von einer Erstarrung,
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die sie hätten abschütteln können, wenn sie beständig im Gebet
mit Gott verbunden gewesen wären. So aber erkannten sie nicht
die Notwendigkeit des Wachens und Betens, um der Versuchung
widerstehen zu können.