Seite 686 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

682
Das Leben Jesu
tropfen, die fielen auf die Erde“.
Lukas 22,44
. Die Zypressen und
Palmen waren stille Zeugen seines Ringens; von ihren blätterreichen
Zweigen fielen schwere Tautropfen auf seine Gestalt, als ob die Na-
tur über ihren Schöpfer weinte, der mit den Mächten der Finsternis
einen einsamen Kampf ausfocht.
Erst kürzlich hatte Jesus gleich einer mächtigen Zeder dem Sturm
des Widerstandes, der sich wütend gegen ihn erhob, Trotz geboten.
Halsstarrige Köpfe sowie boshafte und verschlagene Herzen hat-
ten vergebens versucht, ihn zu verwirren und zu überwältigen. In
göttlicher Majestät hatte er sich als Sohn Gottes unbeugsam gezeigt.
Jetzt dagegen glich er einem windgepeitschten Schilfrohr. Er war
der Vollendung seiner Aufgabe wie ein Held entgegengegangen; mit
jedem Schritt errang er einen Sieg über die Mächte der Finsternis.
Als ein schon Verklärter hatte er seine Verbundenheit mit Gott be-
hauptet; mit fester Stimme hatte er seine Lobgesänge ausströmen
lassen und seine Jünger aufgemuntert und getröstet. Aber jetzt war
die Stunde der Macht der Finsternis über ihn hereingebrochen. Seine
Stimme klang wie der Hauch der Abendlüfte, sie hörte sich nicht
an wie Triumphgesang, sondern war voller Angst und Sorge, als sie
an die Ohren der schlaftrunkenen Jünger drang: „Mein Vater, ist‘s
nicht möglich, daß dieser Kelch an mir vorübergehe, ich trinke ihn
denn, so geschehe dein Wille!“
Matthäus 26,42
.
Der erste Gedanke der Jünger war, zu ihm zu gehen; aber der
Herr hatte ihnen ja geboten, an ihrem Platz zu bleiben, zu wachen
und zu beten. Als der Heiland erneut zu ihnen kam, fand er sie
„abermals schlafend“. Wieder hatte er sich nach ihrer Gesellschaft
gesehnt, nach einigen Worten von ihnen, die ihm hätten Erleichte-
rung bringen und die Zeit der Finsternis brechen können, die ihn fast
überwältigte. Aber ihre Augen waren „voll Schlafs, und sie wußten
nicht, was sie ihm antworten sollten.“
Markus 14,40
. Seine Ge-
genwart machte sie wach; sie schauten sein vom blutigen Schweiß
entstelltes Angesicht, und sie fürchteten sich. Sie konnten seine See-
lenangst nicht verstehen, dazu war „seine Gestalt häßlicher ... als
[688]
die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder“.
Jesaja 52,14
.
Wiederum wandte sich Jesus ab und ging an seinen Zufluchtsort
zurück; von den Schrecken einer großen Finsternis überwältigt, fiel
er zu Boden. Die menschliche Natur Jesu zitterte in dieser entschei-