Seite 687 - Das Leben Jesu (1973)

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Gethsemane
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dungsschweren Stunde; er betete jetzt nicht für seine Jünger, daß
ihr Glaube nicht wankend werden möge, sondern für seine eigene
geprüfte und gemarterte Seele. Der schreckliche Augenblick war
gekommen, jene Stunde, die das Schicksal der Welt entscheiden
sollte. Das Geschick der Menschenkinder war noch in der Schwebe.
Noch konnte sich Christus weigern, den für die sündige Menschheit
bestimmten Kelch zu trinken; noch war es nicht zu spät. Jesus konnte
sich immer noch den blutigen Schweiß von seiner Stirn wischen und
den Menschen in seiner Gottlosigkeit verderben lassen. Er konn-
te sagen: Laß den Übertreter die Strafe seiner Schuld empfangen;
ich will zurückgehen zu meinem Vater im Himmel. Will der Sohn
Gottes den bitteren Kelch der Erniedrigung und des Leidens bis zur
Neige leeren? Will er, der unschuldig war, die Folgen des Fluches
der Sünde erleiden, um die Schuldigen zu retten? Von den bleichen
Lippen Jesu fielen — stammelnd — die Worte: „Mein Vater, ist‘s
nicht möglich, daß dieser Kelch an mir vorübergehe, ich trinke ihn
denn, so geschehe dein Wille!“
Matthäus 26,42
.
Dreimal hatte Jesus so gebetet; dreimal war das Menschliche
in ihm vor dem letzten, krönenden Opfer zurückgeschreckt. Nun
zieht im Geiste noch einmal die ganze Geschichte des Menschenge-
schlechtes an dem Welterlöser vorüber. Er sieht den Gesetzesbrecher
untergehen, wenn dieser sich auf sich selbst verläßt; er sieht die Hilf-
losigkeit der Menschen und die Macht der Sünde. Das Elend und die
Klagen einer verurteilten Welt steigen vor ihm auf, er erkennt deren
drohendes Geschick, und — sein Entschluß ist gefaßt. Er will die
Menschen retten, koste es, was es wolle. Er nimmt die Bluttaufe an,
damit Millionen Verdammter das ewige Leben gewinnen können. Er
hatte die himmlischen Höfe, wo Reinheit, Freude und Herrlichkeit
herrschten, verlassen, um das eine verlorene Schaf — die durch
Übertretung gefallene Welt — zu retten. Er will sich seiner Aufga-
be nicht entziehen. Er wird dem der Sünde verfallenen Geschlecht
die Versöhnung ermöglichen. Sein Gebet nun ist Ergebung in sein
Schicksal: „So geschehe dein Wille!“
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Nach dieser Entscheidung fiel er wie tot zu Boden, von dem
er sich halb aufgerichtet hatte. Wo waren jetzt seine Jünger, um
liebevoll ihre Hände unter das Haupt des ohnmächtigen Erlösers zu
legen, um jene Stirn zu netzen, die stärker zerfurcht war als bei den