Seite 69 - Das Leben Jesu (1973)

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Auf dem Passahfest
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Sie fanden Jesus in der Schule der Rabbiner. Trotz ihrer großen
Freude konnten sie doch ihre Angst und Sorge nicht gleich verwin-
den. Als sie miteinander allein waren, sagte Maria zu dem Kna-
ben, und ein leiser Vorwurf schwang in ihren Worten: „Mein Sohn,
warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich
mit Schmerzen gesucht.“
Lukas 2,48
.
„Was ist‘s, daß ihr mich gesucht habt?“ erwiderte Jesus. „Wisset
ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist?“
Lukas
2,49
. Dabei zeigte er nach oben, weil er sah, daß Maria und Jo-
seph seine Worte nicht verstanden. Sein Angesicht glänzte, so daß
die Eltern sich wunderten. Die Gottheit Jesu durchleuchtete den
Menschensohn. Als sie ihn im Tempel fanden, hatten auch sie dem
gelauscht, was sich zwischen ihm und den Schriftgelehrten abspielte,
und sie hatten sich über seine Fragen und Antworten gewundert.
Seine Worte weckten in ihnen eine Reihe von Gedanken, die sie
niemals wieder vergessen konnten.
Seine Frage an sie erteilte ihnen eine Lektion. „Wisset ihr nicht,
daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist?“
Lukas 2,49
. Jesus
war dabei, das zu erfüllen, wozu er in die Welt gekommen war, doch
Joseph und Maria hatten ihre Aufgabe vernachlässigt. Gott hatte
ihnen große Ehre erwiesen, indem er ihnen seinen Sohn anvertraute.
Heilige Engel hatten den Lebensweg Josephs gelenkt, um Jesu Leben
zu schützen. Dennoch hatten Joseph und Maria für einen ganzen
Tag den aus den Augen verloren, den sie doch keinen Augenblick
vergessen sollten. Und als ihre Besorgnis sich endlich als grundlos
erwies, haben sie nicht etwa sich selbst Vorwürfe gemacht, sondern
ihm die Schuld gegeben.
Es war verständlich, daß Maria und Joseph Jesus als ihr eigenes
Kind betrachteten. Er war täglich bei ihnen, sein Leben glich in vieler
Hinsicht dem der anderen Kinder, so daß es ihnen schwer fiel, in
ihm den Sohn Gottes zu sehen. Sie liefen Gefahr, die ihnen gewährte
Segnung der Gegenwart des Heilandes der Welt zu unterschätzen.
Der Schmerz, den sie bei der Trennung von ihm empfanden, und
der gelinde Vorwurf, den seine Worte enthielten, sollte ihnen die
Heiligkeit des ihnen Anvertrauten eindringlich nahebringen.
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In der Antwort an seine Mutter zeigte Jesus zum ersten Mal, daß
ihm seine enge Beziehung zu Gott bewußt war. Vor seiner Geburt
hatte der Engel zu Maria gesagt: „Der wird groß sein und ein Sohn