Seite 690 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
konnten die Mordgesellen nicht ertragen; sie wichen zurück, und
Priester, Älteste, Soldaten, selbst Judas, sanken wie tot zu Boden.
Der Engel zog sich zurück, und das Licht verblaßte. Jesus hat-
te die Möglichkeit zu fliehen, doch er blieb, gelassen und seiner
selbst gewiß. Wie ein Verklärter stand er inmitten dieser hartgesot-
tenen Schar, die jetzt niedergestreckt und hilflos zu seinen Füßen
lag. Die Jünger blickten schweigend, scheu und verwundert auf das
Geschehen vor ihren Augen.
Doch das Bild änderte sich schnell. Die Häscher sprangen auf;
die römischen Soldaten, die Priester und Judas umringten Christus.
Sie schienen sich ihrer Schwäche zu schämen und fürchteten, er
würde ihnen entrinnen. Da wiederholte Jesus nochmals die Frage:
„Wen suchet ihr?“ Sie hatten zwar schon einen ausreichenden Beweis
dafür erhalten, daß der, der vor ihnen stand, der Sohn Gottes war, aber
sie wollten sich nicht überzeugen lassen. Auf die Frage: „Wen suchet
ihr?“ antworteten sie wiederum: „Jesus von Nazareth.“
Johannes
18,7
. Der Heiland sagte darauf: „Ich habe es euch gesagt, daß ich‘s
bin. Suchet ihr denn mich, so lasset diese gehen!“ (
Johannes 18,8
)
— und zeigte auf seine Jünger. Er kannte ihren schwachen Glauben
und wünschte sie vor Versuchungen und Anfechtungen zu bewahren.
Er war bereit, sich für sie zu opfern.
Judas, der Verräter, vergaß seine Absicht nicht. Als die Häscher
den Garten betraten, hatte er sie angeführt, dicht gefolgt von dem
Hohen Priester. Mit den Verfolgern Jesu hatte er ein Zeichen verein-
bart und zu ihnen gesagt: „Welchen ich küssen werde, der ist‘s; den
greifet.“
Matthäus 26,48
. Jetzt tat er so, als habe er mit ihnen gar
keine Verbindung. Er ging auf den Herrn zu, ergriff freundschaftlich
seine Hand, küßte ihn wiederholt mit den Worten: „Gegrüßet seist
du, Rabbi!“ und gab sich den Anschein, als weine er aus Mitleid mit
ihm in dessen gefahrvoller Lage.
Jesus sprach zu ihm: „Mein Freund, warum bist du gekommen?“
Seine Stimme zitterte vor Wehmut, als er hinzufügte: „Judas, verrätst
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du des Menschen Sohn mit einem Kuß?“
Matthäus 26,49.50
;
Lukas
22,48
. Diese Worte hätten das Gewissen des Verräters wachrütteln
und sein verstocktes Herz anrühren müssen, aber Ehre, Treue und
menschliches Empfinden hatten ihn verlassen. Dreist und herausfor-
dernd stand er da, und er ließ durch nichts erkennen, daß er bereit
war, nachzugeben. Er hatte sich Satan verschrieben und war völlig