Seite 726 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
die Fesseln abzunehmen. Gleichzeitig warf er den Feinden Jesu vor,
ihn grob behandelt zu haben. Voller Mitgefühl sah er in das ruhige
Antlitz des Erlösers der Welt und las darin nur Weisheit und Reinheit.
Wie Pilatus war auch er davon überzeugt, daß Christus aus Arglist
und Mißgunst angeklagt wurde.
Herodes fragte Jesus mancherlei; aber der Heiland bewahrte
die ganze Zeit hindurch tiefes Schweigen. Auf Anordnung des Kö-
nigs brachte man Kranke und Gebrechliche herein, und Jesus wurde
aufgefordert, seinen Anspruch durch ein Wunder zu rechtfertigen.
Herodes sagte ihm: Man behauptet, du könnest Kranke heilen. Mir
ist sehr daran gelegen zu sehen, ob deine weitverbreitete Berühmtheit
sich nicht auf Lügen gründet. Jesus erwiderte nichts, und Herodes
versuchte noch weiter, Jesus zu nötigen: Wenn du für andere Wun-
der tun kannst, so wirke sie jetzt zu deinem eigenen Besten; das
wird dir dienlich sein. Immer wieder forderte er: Zeige uns durch
Zeichen, daß du die Macht hast, die man dir nachsagt. Doch Jesus
schien nichts zu hören und zu sehen. Der Sohn Gottes war Mensch
geworden, und er mußte sich auch so verhalten wie Menschen in
der gleichen Lage. Er wollte kein Wunder wirken, um sich dadurch
dem Leid und der Erniedrigung zu entziehen, die Menschen unter
ähnlichen Umständen erdulden mußten.
Herodes versprach dem Heiland sogar die Freiheit, wenn er in
seiner Gegenwart irgendein Wunder wirken würde. Christi Ankläger
hatten mit eigenen Augen die durch göttliche Kraft vollbrachten
machtvollen Taten gesehen. Sie hatten gehört, wie er die Toten aus
dem Grabe rief und wie sie, seiner Stimme gehorchend, auferstan-
den. Furcht ergriff sie, daß er jetzt ein Wunder vollbringen sollte;
denn nichts fürchteten sie so sehr wie eine Äußerung seiner Macht.
Eine derartige Machtbekundung würde ihren Plänen den Todesstoß
versetzen und sie vielleicht gar das Leben kosten. In großer Besorg-
nis schleuderten die Priester und Obersten aufs neue ihre Anklagen
gegen Jesus. Mit lauter Stimme schrien sie: Er ist ein Verbrecher, ein
Lästerer! Er vollbringt seine Wunder durch die ihm von Beelzebub,
dem Fürsten des Bösen, verliehene Macht. Die Halle bot ein Bild
der Verwirrung; einer überschrie den andern.
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Das Gewissen des Herodes war bei weitem nicht mehr so emp-
findlich wie zu jener Zeit, da er bei der Bitte der Herodias um das
Haupt Johannes des Täufers vor Entsetzen gezittert hatte. Eine Zeit-