Seite 727 - Das Leben Jesu (1973)

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Bei Pilatus
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lang war er wegen jener schrecklichen Tat von heftigen Gewissens-
bissen gequält worden, aber sein ausschweifendes Leben hatte im
Laufe der Zeit sein sittliches Empfindungsvermögen immer mehr
abstumpfen lassen. Jetzt war sein Herz so verhärtet, daß er sich sogar
der Strafe zu rühmen vermochte, die über Johannes verhängt worden
war, weil dieser es gewagt hatte, ihn zu tadeln. Er bedrohte Jesus
und hielt ihm mehrmals vor, daß er die Macht hätte, ihn freizulassen
oder zu verdammen. Doch Jesus gab durch nichts zu erkennen, daß
er auch nur ein Wort davon gehört hätte.
Dieses andauernde Schweigen Jesu brachte Herodes auf, da es
äußerste Gleichgültigkeit gegenüber seiner Machtstellung anzudeu-
ten schien. Den eingebildeten und prahlerischen König hätte ein
offener Tadel weniger beleidigt, als in dieser Weise nicht beachtet
zu werden. Wieder bedrohte er ärgerlich den Herrn — doch dieser
verharrte still und unbewegt.
Es war nicht die Aufgabe Jesu in dieser Welt, eitle Neugierde zu
befriedigen; er war vielmehr gekommen, um die zerbrochenen Her-
zen zu heilen. Hätte er ein Wort sprechen können, um die Wunden
sündenkranker Menschen zu heilen, er würde bestimmt nicht ge-
schwiegen haben. Aber jenen, die die Wahrheit unter ihre unheiligen
Füße treten würden, hatte er nichts zu sagen.
Gewiß hätte Christus dem Herodes manches mitteilen können,
das dem innerlich verhärteten König durch und durch gegangen
wäre. Es hätte den König mit Furcht und mit Zittern erfüllt, würde
er ihm seine ganze Sündhaftigkeit und die Schrecken des über ihn
hereinbrechenden Gerichts gezeigt haben. Doch Christi Stillschwei-
gen war der härteste Tadel, den er in diesem Falle austeilen konnte.
Herodes hatte die Wahrheit verworfen, die ihm von dem größten
aller Propheten vermittelt worden war; keine andere Botschaft sollte
er mehr empfangen. Nicht ein Wort hatte der Herr des Himmels
für ihn. Die Ohren, die dem menschlichen Leid stets geöffnet wa-
ren, hörten nicht auf die Aufforderungen des jüdischen Königs. Die
Augen, die stets in mitleidsvoller und barmherziger Liebe dem reu-
mütigen Sünder zugewandt waren, hatten keinen Blick für Herodes.
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Die Lippen, die die eindrucksvollsten Wahrheiten verkündet und die
zärtlich bittend mit den Sündigsten und den am tiefsten Gefallenen
gebetet hatten, blieben für den hochmütigen König, der nicht das
Bedürfnis nach einem Heiland spürte, geschlossen.