Seite 729 - Das Leben Jesu (1973)

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Bei Pilatus
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Verantwortung befreien und sandte Jesus wieder zum römischen
Richthaus zurück.
Pilatus war enttäuscht und sehr unwillig. Als die Juden mit ihrem
Gefangenen zurückkamen, fragte er sie ungeduldig, was er nach ihrer
Meinung noch tun solle. Er erinnerte sie daran, daß er Jesus bereits
verhört und keine Schuld an ihm gefunden habe. Auch sagte er ihnen,
daß sie ihn zwar verklagt hätten, ohne jedoch in der Lage gewesen
zu sein, auch nur einen Anklagepunkt zu beweisen. Er habe Jesus zu
Herodes gesandt, dem Vierfürsten in Galiläa — einem Juden wie sie
auch —, doch auch dieser hatte nichts Todeswürdiges an ihm finden
können. „Ich will ihn also züchtigen lassen und losgeben.“
Lukas
23,16
.
Hier zeigte Pilatus seine Schwäche. Er hatte erklärt, daß Jesus
unschuldig sei; dennoch wollte er ihn um seiner Verkläger willen
geißeln lassen. Er war bereit, Grundsätze und Gerechtigkeit zu op-
fern, um mit dem Volke einen Vergleich zu schließen. Er brachte sich
aber dadurch selbst in eine ungünstige Lage. Die Menge rechnete
jetzt mit seiner Unentschlossenheit und forderte dreister das Leben
des Gefangenen. Wäre Pilatus anfangs fest geblieben und hätte er
sich geweigert, einen als unschuldig erfundenen Menschen zu verur-
teilen, dann würde er die unheilvolle Kette zerbrochen haben, die
ihn ein Leben lang an Schuld und Gewissensnot binden sollte. Hätte
er von Anfang an gemäß seiner Überzeugung gehandelt, wären die
Juden nicht so anmaßend geworden, ihm Vorschriften zu machen.
Christus wäre getötet worden; aber die Schuld hätte nicht auf Pilatus
gelastet. Doch nun hatte er Schritt für Schritt sein Gewissen preisge-
geben. Er hatte es unterlassen, gerecht und unparteiisch zu handeln,
und fand sich jetzt nahezu hilflos in den Händen der Priester und
Obersten. Sein Schwanken und seine Unentschlossenheit gereichten
ihm schließlich zum Verderben.
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Sogar jetzt noch brauchte Pilatus nicht unbesonnen zu handeln.
Eine von Gott gesandte Botschaft warnte ihn vor der Tat, die er im
Begriff war zu vollziehen. Auf Christi Gebet hin war die Frau des
Pilatus von einem himmlischen Engel aufgesucht worden, und in
einem Traum hatte sie Jesus erblickt und mit ihm gesprochen. Die
Frau des Pilatus war keine Jüdin. Als sie jedoch in ihrem Traum auf
Jesus schaute, zweifelte sie nicht im geringsten an seinem Wesen
oder an seiner Sendung. Sie erkannte in ihm den gesalbten Gottes.