Seite 772 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

768
Das Leben Jesu
und Füße, und ihr Schmerz war unbeschreiblich. Bis zum letzten Au-
genblick hatten sie sich gegen den Gedanken seines Todes gewehrt;
sie konnten es nicht fassen, daß ihr Heiland wirklich gestorben war.
In ihrem Kummer dachten sie nicht an seine Worte, die gerade dieses
Geschehen vorhergesagt hatten. Nichts von alledem, was er ihnen
mitgeteilt hatte, konnte sie trösten. Sie sahen nur das Kreuz und das
blutende Opfer. Die Zukunft schien ihnen von Hoffnungslosigkeit
verdunkelt. Ihr Glaube an Jesus war verlorengegangen, und doch
hatten sie den Herrn nie mehr geliebt als jetzt. Nie zuvor hatten sie
seine Bedeutung und die Notwendigkeit seiner Gegenwart stärker
empfunden als in diesen Stunden.
Sogar der tote Leib Christi war den Jüngern überaus teuer. Sie
wollten ihm gern ein würdiges Begräbnis geben; nur wußten sie
nicht, wie sie dies bewerkstelligen sollten. Jesus war wegen Verrats
an der römischen Macht verurteilt worden. Wer auf Grund einer sol-
chen Anklage hingerichtet worden war, den schaffte man auf einen
eigens für diese Verbrecher angelegten Begräbnisplatz. Der Jünger
Johannes war mit den Frauen aus Galiläa an der Kreuzigungsstätte
geblieben. Sie wollten den Leib ihres Herrn nicht in den Händen
gefühlloser Soldaten und in einem unehrenhaften Grab wissen. Doch
sie konnten es nicht verhindern, da sie kein Verständnis von den
jüdischen Obersten erwarten durften und auch keinen Einfluß auf
Pilatus hatten.
In dieser Notlage kamen Joseph von Arimathia und Nikodemus
den Jüngern zu Hilfe. Beide waren Mitglieder des Hohen Rates und
mit Pilatus gut bekannt; dazu waren sie reich und besaßen großen
Einfluß. Diese Männer waren entschlossen, dem Leib des Herrn ein
ehrenhaftes Begräbnis zu geben.
Joseph ging kurzentschlossen zu Pilatus und bat ihn um den
Leichnam Jesu. Jetzt erst erfuhr Pilatus, daß Jesus gestorben war.
Widerspruchsvolle Berichte über die Begleiterscheinungen während
der Kreuzigung hatte er schon gehört, doch die Kunde vom Tode
Jesu war ihm vorsätzlich verheimlicht worden. Die Priester und
Obersten hatten ihn in Bezug auf den Leichnam Jesu bereits vor ei-
nem Betrugsversuch der Anhänger Jesu gewarnt. Als er von Josephs
[776]
Bitte hörte, sandte er deshalb nach dem Hauptmann, der die Wache
am Kreuz hatte, und erhielt von ihm die Gewißheit des Todes Jesu.