Seite 774 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Frauen aus Galiläa kamen, um sich davon zu überzeugen, daß alles
getan worden war, was für den Leichnam ihres geliebten Lehrers
getan werden konnte. Dann sahen sie, wie ein schwerer Stein vor
den Eingang des Grabgewölbes gewälzt und der Heiland der Ruhe
überlassen wurde. Die Frauen waren die letzten am Kreuz gewesen,
sie waren auch die letzten am Grabe Christi. Die Abendschatten
hatten sich schon auf das Land gesenkt, da weilten sie immer noch
an der Ruhestätte ihres Herrn und beweinten in bitteren Tränen das
Schicksal dessen, den sie liebten. „Sie kehrten aber um ... Und den
Sabbat über waren sie still nach dem Gesetz.“
Lukas 23,56
.
Diesen Sabbat konnten weder die trauernden Jünger noch die
Priester, Obersten, Schriftgelehrten und das Volk jemals wieder ver-
gessen. Bei Sonnenuntergang erschallten am Rüsttag die Trompeten,
die den Beginn des Sabbats ankündeten. Das Passah wurde gefei-
ert wie seit Jahrhunderten, während der, auf den es hinwies, von
ruchlosen Händen getötet worden war und in Josephs Grab lag. Am
Sabbat war der Tempelhof mit Gläubigen gefüllt; der Hohepriester,
der auf Golgatha Christus verspottet hatte, war prächtig geschmückt
in seinen priesterlichen Gewändern. Priester mit weißen Turbanen
gingen eifrig ihren Aufgaben nach. Doch manche der Anwesenden
fühlten sich beunruhigt, als die Stiere und Ziegen als Sündopfer dar-
gebracht wurden. Sie erkannten zwar nicht, daß das Wesen bereits
den Schatten aufgehoben hatte, daß ein ewiges Opfer für die Sün-
den der Welt dargebracht worden war. Auch wußten sie nicht, daß
ihr sinnbildlicher Gottesdienst allen weiteren Wert verloren hatte.
Doch nie zuvor hatten die Menschen einem solchen Gottesdienst
mit derartig widerstreitenden Gefühlen beigewohnt. Die Posaunen,
die Musikinstrumente und die Stimmen der Sänger klangen so laut
und klar wie immer. Jedoch lag ein Hauch der Fremdheit über allem.
Einer nach dem andern fragte, welches sonderbare Ereignis stattge-
funden habe. Das Allerheiligste, das bisher geschützt war, lag offen
vor aller Augen; der schwere Vorhang, aus reinem Leinen gewebt
und mit Gold, Purpur und Scharlach prächtig durchwirkt, war von
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oben bis unten zerrissen. Der Platz, an dem Gott dem Hohenpriester
gegenübertrat, um seine Herrlichkeit mitzuteilen, der Ort, der bisher
Gottes heiliger Audienzraum gewesen war, lag vor aller Augen offen
da — er war eine Stätte, die der Herr nicht länger anerkannte. Mit
dunklen Vorahnungen dienten die Priester am Altar; die Entschleie-