Seite 133 - Das Leben Jesu (1973)

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Auf der Hochzeit zu Kana
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täuschungen heimgesucht, und sie sehnte sich nach der Zeit, da
seine Herrlichkeit offenbar werden würde. Joseph, der mit ihr das
Geheimnis der Geburt Jesu geteilt hatte, war schon gestorben, und
Maria hatte niemand, mit dem sie über ihre Hoffnungen und Be-
fürchtungen sprechen konnte. Die beiden letzten Monate waren für
sie recht traurig gewesen. Von Jesus, dessen Mitgefühl ihr stets den
besten Trost gegeben hatte, war sie getrennt gewesen. Sie hatte viel
über die Worte Simeons: „Auch durch deine Seele wird ein Schwert
dringen“ (
Lukas 2,35
) nachdenken müssen; ihr waren auch die drei
Tage schwerer Seelenangst ins Gedächtnis gekommen, an denen sie
geglaubt hatte, Jesus für immer verloren zu haben. So hatte sie nun
mit sorgendem Herzen seine Rückkehr erwartet.
Auf der Hochzeit zu Kana trifft sie Jesus wieder — denselben
liebevollen, pflichtgetreuen Sohn. Und doch ist Jesus nicht derselbe
geblieben. Sein Aussehen hat sich verändert. Die Spuren seines
seelischen Ringens in der Wüste haben sich ihm eingegraben, und ein
bisher nicht erkennbar gewesener Ausdruck von Würde und Hoheit
zeugt von seiner göttlichen Sendung. Um ihn ist eine Schar junger
Männer, deren Augen ehrfürchtig auf ihn sehen und die ihn Meister
nennen. Diese Begleiter berichten Maria, was sie bei Jesu Taufe
und auch bei anderen Gelegenheiten gehört und gesehen haben, und
schließen mit dem Zeugnis: „Wir haben den gefunden, von welchem
Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben.“
Johannes
1,45
.
Während die Gäste sich versammeln, scheinen viele von ihnen
durch eine Angelegenheit von besonderer Bedeutung in Anspruch
genommen zu sein. Eine schlecht unterdrückte Erregung herrscht
unter den Anwesenden. Kleine Gruppen stehen zusammen und un-
terhalten sich mit lebhafter aber leiser Stimme und richten ihre ver-
wunderten Blicke auf den Sohn der Maria. Als Maria der Jünger
Zeugnis über Jesus gehört hatte, war ihr Herz von der freudigen
Gewißheit erfüllt, daß ihre langgehegten Hoffnungen sich nun bald
erfüllen würden. In menschlich begreiflicher Weise mischte sich in
die heilige Freude auch der natürliche Stolz einer liebenden Mutter.
Als sie die vielen auf Jesus gerichteten Blicke bemerkte, sehnte sie
sich danach, ihr Sohn möge der Hochzeitsgesellschaft einen Beweis
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geben, daß er wirklich der Geehrte Gottes wäre. Sie hoffte, Jesus
fände eine Gelegenheit, für sie ein Wunder zu wirken.