Seite 146 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

142
Das Leben Jesu
ter und sah nun, daß sie verfälscht und mißverstanden wurden. Die
[143]
Anbetung im Geiste war nahezu geschwunden. Es bestand keinerlei
Verbindung zwischen den Priestern und Obersten mit ihrem Gott.
Es war Christi Aufgabe, eine gänzlich neue Form des Gottesdienstes
einzuführen.
Mit durchdringendem Blick erfaßt er von den Stufen des Tem-
pelhofes aus das Bild, das sich ihm bietet. Mit prophetischem Auge
schaut er in die Zukunft und überblickt nicht nur Jahre, sondern gan-
ze Jahrhunderte und Zeitalter. Er sieht, daß die Priester und Obersten
des Volkes das Recht der Bedürftigen beugen und daß sie verbieten,
das Evangelium den Armen zu predigen; er sieht, wie die Liebe Got-
tes den Sündern verborgen bleibt und wie die Menschen seine Gnade
zum Handelsgut stempeln. Jesu Blick drückt Empörung, Macht und
Autorität aus, als er auf dieses Treiben schaut. Die Aufmerksamkeit
des Volkes richtet sich auf ihn. Die Augen derer, die sich mit dem
unehrlichen Handel befassen, blicken starr auf den Herrn; sie können
ihren Blick nicht abwenden. Es wird ihnen bewußt, daß dieser Mann
ihre geheimsten Gedanken liest und ihre verborgensten Absichten
durchschaut. Einige versuchen, ihre Gesichter zu verbergen, als ob
ihre bösen Taten darauf geschrieben stünden.
Da verebbt der Lärm. Die Stimmen der Händler und Käufer
verstummen. Eine peinliche Stille tritt ein, die ein Gefühl des
Schreckens auslöst. Es ist, als ob alle vor dem Richterstuhl Got-
tes stehen, um von ihren Taten Rechenschaft abzulegen. Sie schauen
auf Christus und sehen die Gottheit durch seine menschliche Gestalt
hindurchleuchten. Die Majestät des Himmels steht als Richter des
Jüngsten Tages vor ihnen, zwar nicht umgeben von der Herrlichkeit,
die sie dann begleiten wird, aber mit der Macht, die das Innerste
durchschaut. Jesu Auge blickt über die Menge, jeden einzelnen er-
fassend. Seine Gestalt scheint sich in gebietender Würde über alle
Anwesenden zu erheben — und göttliches Licht verklärt sein An-
gesicht. Er spricht, und seine klare, klangvolle Stimme — dieselbe
Stimme, die einst auf dem Sinai das Gesetz verkündigte, das die
Priester und Obersten jetzt so freventlich übertreten — ertönt und
hallt im Tempel wider: „Traget das von dannen und machet nicht
meines Vaters Haus zum Kaufhause!“
Johannes 2,16
Dann steigt er langsam die Stufen hinab, erhebt die Geißel aus
Stricken, die er bei seinem Eintritt in den Hof aufgenommen hat, und
[144]