Seite 145 - Das Leben Jesu (1973)

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In seinem Tempel
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oder erschossen werden; es sei Tier oder Mensch, sie sollen nicht
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leben bleiben.“
2.Mose 19,12.13
. So wurde gelehrt, daß jeder Ort,
an dem Gott seine Gegenwart offenbart, ein heiliger Ort ist. Die
Vorhöfe des Tempels hätten allen heilig sein müssen; aber Geldgier
machte alle Bedenken zunichte.
Die Priester und Obersten waren berufen, für das Volk Stellver-
treter Gottes zu sein; sie hätten den Mißbrauch des Tempelhofes
nicht erlauben dürfen. Sie hätten vielmehr dem Volk ein Beispiel
der Rechtschaffenheit und der Barmherzigkeit geben sollen. Statt
ihren eigenen Vorteil im Auge zu haben, waren sie aufgerufen, die
Lage und die Bedürfnisse der Gläubigen zu bedenken und denen
beizustehen, die nicht imstande waren, die erforderlichen Opfertiere
zu kaufen. Nichts davon geschah; die Habsucht hatte ihre Herzen
verhärtet.
Zum Fest kamen Leidende, Bedürftige und Bedrückte, Blinde,
Lahme und Taube. Manche wurden sogar auf Betten hingebracht.
Es kamen viele, die zu arm waren, um auch nur die geringste Op-
fergabe für den Herrn zu kaufen; zu arm selbst, sich Nahrung zu
besorgen, um den eigenen Hunger zu stillen. Diese wurden durch
die Forderungen der Priester sehr bekümmert, die dabei auf ihre
Frömmigkeit noch sehr stolz waren und behaupteten, die Belange
des Volkes wahrzunehmen. In Wirklichkeit aber kannten sie weder
Mitgefühl noch Erbarmen. Die Armen, die Kranken und die Be-
trübten baten vergeblich um irgendeine Vergünstigung. Ihre Not
erweckte kein Mitleid in den Herzen der Priester.
Als Jesus den Tempel betrat, überschaute er alles mit einem
Blick. Er sah die unredlichen Geschäfte, sah das Elend der Armen,
die da glaubten, ohne Blutvergießen keine Vergebung der Sünden
zu erlangen; er sah den äußeren Vorhof seines Tempels in einen Ort
ruchlosen Schacherns verwandelt. Die heilige Stätte glich einem
großen Markt.
Christus erkannte, daß hier etwas geschehen mußte. Zahlreiche
gottesdienstliche Formen waren dem Volk auferlegt, ohne daß es
deren genaue Bedeutung kannte. Die Gläubigen brachten ihre Opfer,
ohne zu wissen, daß diese ein Sinnbild des einzigen vollkommenen
Opfers waren, Nun stand er, auf den der ganze Gottesdienst hinwies,
unerkannt und unbeachtet unter ihnen. Er hatte die Anordnungen
bezüglich der Opfer gegeben; er kannte ihren symbolhaften Charak-