Seite 156 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

152
Das Leben Jesu
Nikodemus studierte, seit er Jesus gehört hatte, mit besonderer
Sorgfalt jene Weissagungen, die sich auf den Messias beziehen. Je
mehr er darin forschte, desto fester wurde er davon überzeugt, daß
jener Mann der Eine war, der kommen sollte. Wie viele andere Is-
raeliten war auch er sehr betrübt gewesen über die Entweihung des
Tempels. Dann aber wurde er Zeuge jenes Geschehens, als Jesus
die Käufer und Verkäufer vertrieb; er nahm die erstaunlichen Be-
kundungen göttlicher Macht wahr; er beobachtete, wie der Heiland
mit den Armen umging und die Kranken heilte, er sah ihre frohen
Blicke und hörte ihre jubelnden Dankesworte. Da konnte er nicht
mehr daran zweifeln, daß Jesus von Nazareth der von Gott Gesandte
war.
Darum suchte er eifrig nach einer Gelegenheit, mit Jesus zu spre-
chen. Er scheute sich aber, ihn öffentlich und am Tage aufzusuchen;
denn es wäre für einen Obersten der Juden zu demütigend gewesen,
wenn seine Sympathie für einen noch so wenig bekannten Lehrer
offenbar geworden wäre. Und wäre solch Besuch dem Hohen Rat
zur Kenntnis gekommen, dann hätte er zweifellos dessen Verachtung
und Verurteilung auf sich geladen. So entschloß er sich zu einem
unauffälligen Besuch bei Nacht und entschuldigte dies damit, daß,
ginge er am Tage, auch andere seinem Beispiel folgen könnten. Er
hatte in Erfahrung gebracht, daß der Heiland sich gern am Ölberg
aufhielt, und nun besuchte er ihn an dieser einsamen Stätte, als alles
schon schlief.
In der Gegenwart Jesu befiel den großen jüdischen Lehrer eine
eigenartige Schüchternheit, die er durch einen Anschein von Gelas-
senheit und Würde zu verbergen suchte. „Meister“, sprach er Jesus
an, „wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn
niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit
ihm.“
Johannes 3,2
. Indem er Christi einzigartige Lehrgabe und sei-
ne überwältigende Wundermacht hervorhob, hoffte Nikodemus, sich
die Möglichkeit zu einem Gespräch zu bahnen. Seine Worte sollten
Vertrauen zum Ausdruck bringen, offenbarten in Wirklichkeit aber
nur Unglauben. Er anerkannte Jesus nicht als Messias, sondern sah
in ihm nur einen von Gott gesandten Lehrer.
[154]
Statt diesen Gruß zu erwidern, richtete Jesus seine Augen auf
den Sprecher, als wollte er in dessen Seele lesen. In seiner unendli-
chen Weisheit erkannte er in ihm einen nach Wahrheit suchenden