Seite 166 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
noch möglich gewesen, das Wirken Christi zu behindern. Hätte er
sich selbst bemitleidet und Sorge und Enttäuschung darüber geäu-
ßert, jetzt überflüssig zu sein, dann hätte er Zwietracht gesät, Neid
und Eifersucht genährt und den Fortgang des Evangeliums ernstlich
erschwert.
Johannes besaß von Natur aus die allen Menschen gemeinsamen
Fehler und Schwächen, doch die Berührung durch die göttliche Lie-
be hatte ihn umgestaltet. Er lebte in einer Atmosphäre — unbefleckt
von Selbstsucht und Ehrgeiz und völlig erhaben über die anstecken-
de Eifersucht. Er brachte der Unzufriedenheit seiner Jünger kein
Verständnis entgegen, er ließ vielmehr erkennen, wie ungetrübt er
seine Beziehung zum Messias auffaßte und wie freudig er den Einen
willkommen hieß, dessen Weg er bereitet hatte.
Er sprach: „Ein Mensch kann nichts nehmen, es werde ihm denn
gegeben vom Himmel. Ihr selbst seid meine Zeugen, daß ich gesagt
habe, ich sei nicht der Christus, sondern vor ihm her gesandt. Wer
die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams
steht und hört ihm zu und freut sich hoch über des Bräutigams
Stimme.“
Johannes 3,27-29
. Johannes stellte sich als „der“ Freund
vor, der die Rolle eines Boten zwischen den Verlobten — Braut und
Bräutigam — spielte und der Wegbereiter zur Hochzeit war. Sobald
die Braut dem Bräutigam zugeführt war, hatte der Freund seinen
Auftrag erfüllt. Er hatte die Verbindung der beiden gefördert und
freute sich ihres Glückes. Genauso sah Johannes seine Berufung
darin, dem Volk den Weg zu Jesus zu zeigen, und es bedeutete ihm
Freude, Zeuge des erfolgreichen Wirkens des Erlösers zu sein. Er
sagte: „Diese meine Freude ist nun erfüllt. Er muß wachsen, ich aber
muß abnehmen!“
Johannes 3,29.30
.
Johannes blickte im Glauben auf den Heiland, so daß er den
Gipfel der Selbstverleugnung erklimmen konnte. Er erstrebte nicht,
Menschen an sich zu fesseln, sondern er wollte ihre Gedanken höher
und immer höher führen, bis sie beim Lamm Gottes Ruhe fänden.
Er selbst war nur eine Stimme, ein lauter Ruf in der Wüste gewesen.
Jetzt nahm er freudig Schweigen und Vergessenwerden in Kauf,
damit aller Augen auf das Licht des Lebens schauten.
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Boten Gottes, die treu zu ihrer Berufung stehen, suchen nicht
die eigene Ehre. Die Liebe zu sich selbst geht auf in der Liebe zu
Christus. Kein Konkurrenzdenken wird den köstlichen Urgrund der