Seite 185 - Das Leben Jesu (1973)

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„Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht ...“
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Blitzartig erhellten diese Worte Jesu dem königlichen Beam-
ten aus Kapernaum seine innerste Einstellung; er sah, daß er aus
eigennützigen Gründen den Heiland aufgesucht hatte. Sein schwan-
kender Glaube erschien ihm in seiner wahren Natur, und mit großem
Schmerz erkannte er, daß sein Zweifel seinem Sohn das Leben ko-
sten könnte. Er wußte, daß er sich in der Gegenwart dessen befand,
der die Gedanken lesen konnte und dem alle Dinge möglich waren.
In seiner Herzensangst flehte er: „Herr, komm hinab, ehe denn mein
Kind stirbt!“
Johannes 4,49
. Sein Glaube ergriff Jesus, der an Jakob
dachte, wie dieser, mit dem Engel ringend, einst ausgerufen hatte:
„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
1.Mose 32,27
.
Gleich Jakob gewann auch dieser den Sieg. Der Heiland konnte
sich der Seele nicht entziehen, die sich an ihn klammerte und ihm
ihre große Not bekannte. „Gehe hin“, sagte er, „dein Sohn lebt.“
Da verließ der Mann aus Kapernaum mit freudigem Herzen und
einem noch nie gekannten Frieden den Heiland. Er glaubte nicht
nur, daß sein Sohn gesund würde, sondern er war auch der festen
Überzeugung, in Christus den Erlöser gefunden zu haben.
Um diese gleiche Stunde erlebten alle, die in Kapernaum am
Bett des sterbenden Kindes weilten, eine plötzliche, rätselvolle Ver-
änderung. Die Todesschatten wichen von der Stirn des Kindes, das
Fieber ließ nach, die ersten Anzeichen beginnender Genesung mach-
ten sich bemerkbar; in die trüben Augen kam wieder Glanz und
Verständnis, und den schwachen, abgemagerten Körper erfüllte neue
Kraft. Das Kind zeigte keinerlei Anzeichen einer Erkrankung mehr.
Die Familie war aufs höchste erstaunt und erfreut.
Die Entfernung zwischen Kana und Kapernaum war nicht so
groß. Der jüdische Oberste hätte noch am gleichen Abend nach der
Unterredung mit Jesus sein Heim erreichen können. Er beeilte sich
aber nicht und erreichte erst am nächsten Morgen wieder Kapernaum.
Welch eine Heimkehr war das! Als er ausgegangen war, Jesus zu
suchen, hatten Sorgen sein Herz erfüllt; der Sonnenschein schien
ihm grausam, und der Gesang der Vögel blanker Hohn. Wie ganz
anders ist es heute! Die Natur erscheint ihm verwandelt zu sein, so
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neu kommt ihm alles vor. Als er sich in der Stille des frühen Morgens
auf die Reise begibt, scheint die ganze Schöpfung mit ihm den Herrn
zu loben. Kurz vor Kapernaum kommen ihm einige seiner Diener
entgegen, die ihn aus der Ungewißheit befreien wollen. Doch er zeigt