Seite 189 - Das Leben Jesu (1973)

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Bethesda und der Hohe Rat
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und wurde als Gottesgericht angesehen. Verlassen, ohne Freunde
und unter dem Eindruck, von der Gnade Gottes ausgeschlossen zu
sein, hatte der Leidende viele Jahre des Elends durchlebt. Zu der
Zeit, da man das Aufwallen des Wassers erwartete, trugen ihn andere,
die sich seiner Hilflosigkeit erbarmten, zu den Hallen. Im günstigen
Augenblick jedoch hatte er niemanden, der ihm hineinhalf. Er hatte
zwar gesehen, wie das Wasser Wellen schlug, war aber niemals in
der Lage gewesen, weiter zu gelangen als bis ans Ufer des Teiches.
Stärkere als er stürzten sich stets vor ihm hinein. Den Wettlauf mit
der selbstsüchtigen, sich balgenden Menge konnte er nicht gewinnen.
Sein beharrliches Bemühen um das eine Ziel sowie seine Angst und
anhaltende Enttäuschung zehrten den Rest seiner Kräfte auf.
Der kranke Mann lag auf seiner Matte und hob dann und wann
sein Haupt, um auf den Teich zu schauen, als sich ein gütiges, mit-
leidvolles Antlitz über ihn beugte und die Worte „Willst du gesund
werden?“ seine Aufmerksamkeit weckten.
Johannes 5,6
. Sein Herz
wurde von Hoffnung erfüllt. Er fühlte, daß er in irgendeiner Weise
Hilfe erwarten durfte. Aber der Schimmer der Ermutigung schwand
schnell. Er dachte daran, wie oft er vergebens versucht hatte, den
Teich zu erreichen, und rechnete kaum noch damit, am Leben zu
sein, wenn das Wasser wieder in Bewegung geriete. Müde wandte
er sich ab und sagte: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in
den Teich trägt, wenn das Wasser sich bewegt. Wenn ich hingehe,
steigt schon ein anderer vor mir hinein.“
Johannes 5,7 (Bruns)
.
Jesus fordert diesen Leidenden nicht auf, an ihn zu glauben,
sondern sagt schlicht: „Stehe auf, nimm dein Bett und geh!“
Johan-
nes 5,8 (Bruns)
. An dieses Wort nun klammert sich der Glaube des
Mannes. Jeder Nerv und jeder Muskel erbebt von neuem Leben, und
heilsame Bewegung erfaßt seine verkrüppelten Glieder. Ohne lange
zu fragen, entschließt er sich, der Weisung Christi zu folgen, und
alle seine Muskeln gehorchen seinem Willen. Er springt auf seine
Füße und stellt fest, daß er ein rüstiger Mann ist.
Jesus hatte ihm keineswegs göttliche Hilfe zugesichert. Der
Mann hätte im Zweifel verharren und seine einzige Möglichkeit,
geheilt zu werden, einbüßen können. Doch er glaubte dem Wort
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Christi, handelte danach und empfing Kraft.
Durch den gleichen Glauben können wir geistlich geheilt werden.
Die Sünde hat uns vom göttlichen Leben getrennt. Unsere Seelen