Seite 206 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
der Armen und Leidenden zum Himmel aufstiegen.
Dem einsamen Propheten schien all dies ein Geheimnis zu sein,
das seine Fassungskraft überstieg. Es gab Stunden, in denen die
Einflüsterungen teuflischer Mächte seinen Geist quälten und der
Schatten einer schrecklichen Furcht ihn beschlich. War der seit lan-
gem erwartete Erlöser etwa noch gar nicht erschienen? Doch was
bedeutete dann die Botschaft, die hinauszutragen es ihn getrieben
hatte? Das Ergebnis seines Dienstes hatte Johannes bitter enttäuscht.
Er hatte erwartet, daß Gottes Botschaft die gleiche Wirkung haben
würde wie das öffentliche Lesen des Gesetzes in den Tagen des Josia
und des Esra.
2.Chronik 34,14-33
;
Nehemia 8,9
. Er hatte damit ge-
rechnet, daß es zu einer tiefgehenden Buße und Umkehr zum Herrn
kommen würde. Dem Erfolg dieses Auftrages hatte er sein ganzes
Leben geweiht. Sollte nun alles umsonst gewesen sein?
Johannes war betrübt, als er feststellte, daß seine eigenen Jün-
ger aus Liebe zu ihm Jesus gegenüber Unglauben zeigten. Hatte
er an ihnen fruchtlos gearbeitet? Hatte er seinen Dienst vielleicht
nicht gewissenhaft genug erfüllt und wurde nun deshalb von dem
Fortgang seines Auftrages ausgeschlossen? Hätte Jesus, der verhei-
ßene und erschienene Erlöser, nicht die Macht des Unterdrückers
gebrochen und seinem Boten Johannes die Freiheit wiedergegeben
— vorausgesetzt, dieser wäre in seiner Berufung als treu erfunden
worden?
Doch der Täufer verlor nicht seinen Glauben an Christus. Die
Erinnerung an die Stimme vom Himmel und das Herniederschweben
der Taube, die fleckenlose Reinheit Jesu, die Kraft des Heiligen Gei-
stes, die Johannes erfüllt hatte, als er in die Nähe des Heilandes kam,
und das Zeugnis der prophetischen Schriften — das alles bezeugte
ihm, daß Jesus von Nazareth der Verheißene Gottes war.
Matthäus
3,13-17
;
Markus 1,9-11
;
Lukas 3,21.22
;
Johannes 1,32-34
.
Johannes wollte über seine Zweifel und Besorgnisse nicht mit
seinen Jüngern sprechen, sondern beschloß, bei Jesus selbst nachfra-
gen zu lassen. Damit betraute er zwei seiner Jünger. Er hoffte, daß
ihr Gespräch mit dem Heiland ihren eigenen Glauben stärken und
ihren Brüdern Gewißheit bringen würde. Und er selbst sehnte sich
nach irgendeinem persönlichen Wort aus dem Munde Christi.
Die Jünger kamen zu Jesus mit der Frage: „Bist du, der da kom-
men soll, oder sollen wir eines andern warten?“
Matthäus 11,3
.
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