Seite 205 - Das Leben Jesu (1973)

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Gefangenschaft und Tod des Johannes
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Diese Fragen blieben nicht ohne Wirkung. Zweifel, wie sie sonst
niemals aufgekommen wären, wurden Johannes eingeflüstert. Satan
hatte seine Freude daran, die Worte dieser Jünger zu hören und zu
sehen, wie sie den Boten des Herrn tief innerlich verwundeten. Wie
oft erweisen sich doch gerade die guten Freunde eines Menschen,
die ihm so gern ihre Verbundenheit bekunden, als seine gefähr-
lichsten Feinde! Vielfach wirken ihre Worte niederdrückend und
entmutigend, statt den Glauben zu stärken.
Johannes dem Täufer erging es wie den Jüngern des Heilandes:
Auch er hatte das Wesen des Reiches Christi nicht verstanden, son-
dern wartete darauf, daß Jesus den Thron Davids einnehmen werde.
Als aber die Zeit verstrich und der Heiland keinen Anspruch auf
königliche Autorität geltend machte, zeigte sich Johannes bestürzt
und beunruhigt. Er hatte dem Volk verkündet, daß als Erfüllung der
Weissagung des Jesaja dem Herrn der Weg bereitet werden müsse.
„Alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben
ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden.“
Jesaja 40,4
;
Jesaja 57,14
. Er hatte nach den Gipfeln menschlichen Hochmuts und
menschlicher Macht Ausschau gehalten, die erniedrigt werden müß-
ten. Und er hatte auf den Messias als denjenigen hingewiesen, der
„seine Wurfschaufel schon in der Hand“ hält und gründlich „seine
Tenne fegen“, der „seinen Weizen in die Scheune sammeln; aber die
Spreu ... mit unauslöschlichem Feuer verbrennen“ wird.
Matthäus
3,12 (Bruns)
. Gleich dem Propheten Elia, in dessen Geist und Kraft
er zu Israel gekommen war, erwartete Johannes, daß der Herr sich
als ein Gott offenbaren werde, der mit Feuer antwortet.
Seinen Dienst hatte der Täufer als ein Mann versehen, der Un-
recht vor hoch und niedrig furchtlos tadelte. Er hatte gewagt, dem
König Herodes mit offener Mißbilligung der Sünde entgegenzutre-
ten. Ja, er hatte sein eigenes Leben nicht geschont, wenn es galt,
den ihm erteilten Auftrag zu erfüllen. Und nun wartete er in sei-
nem Verlies auf den „Löwen“ aus dem Stamme Juda (
1.Mose 49,4
),
der den Hochmut des Unterdrückers dämpfen und die Armen und
Jammernden befreien sollte. Jesus hingegen schien sich damit zu-
friedenzugeben, Jünger um sich zu sammeln und das Volk zu heilen
und zu lehren. Er aß an den Tischen der Zöllner, während das Joch
der Römer jeden Tag schwerer auf Israel lastete, König Herodes und
seine nichtswürdige Buhlerin taten, was sie wollten, und die Schreie
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